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delsorganisation (WTO) proklamierten Neoliberali-
sierung (Potter 2010). Lichtenberger (2005) identifiziert
für Europa vier Phasen der Entstehung dieser Multi-
funktionalität:
3. Phase: Pendlerbewegungen zwischen Land (Wohn-
ort) und Stadt (Arbeitsort) nach dem Zweiten Welt-
krieg
4. Phase: Rückgang der Infrastrukturen in ländlichen
Räumen (seit den 1970er-Jahren)
1.
Phase: Industrialisierung des ländlichen Raumes
durch Manufakturen (z. B. Glasereien, Webereien)
2.
Phase: Abschaffung grundherrlicher Abhängigkei-
ten und die daraus resultierende Landflucht
Wie sich der ländliche Raum verändert, zeigt sich auch
in politischen Bewegungen, wie zum Beispiel am Wider-
Exkurs 7.5
Der ländliche Raum als Peripherie?
Thilo Lang
Ländliche Räume in Europa werden oft mit Peripherie
gleichgesetzt - der „ländlich-periphere Raum“ ist eine gän-
gige Kategorie der Raumordnung unter anderem in Deutsch-
land, Österreich und der Schweiz; meistens verbindet sich
damit eine negative Konnotation. Urbane Räume in Europa
grundsätzlich als zentral zu betrachten, ist ebenso falsch,
wie ländliche Räume als Peripherie. Seit der Industrialisie-
rung gelten urbane Räume zwar als Wachstumsräume, als
Wirtschaftszentren und als Machtknoten, doch auch sie
müssen differenziert betrachtet werden. So löst sich der
klassische Gegensatz zwischen Stadt und Land zunehmend
auf, Lebensformen und Lebensstile gleichen sich an, ländli-
che Räume im Umfeld der großen Städte und andernorts
werden zentral, urbane Räume werden zu Peripherien der
Weltwirtschaft (z. B. Teile des Ruhrgebiets oder andere alt-
industriell geprägte Agglomerationen) oder verlieren an
Zentralität (z. B. der Raum Danzig in Polen durch eine feh-
lende Einbindung in transeuropäische Verkehrsnetze).
Trotz dieser Verschiebungen findet sich die Analogie
von ländlichem Raum als Peripherie häufig in der Raum-
forschung wie in Alltagsdiskursen. Eine neue regionale
Geographie muss sich aber von diesen Vorstellungen lösen
und eher prozessorientiert denken. So wird es möglich,
Wechselwirkungen zwischen den Räumen zu erfassen
(z. B. Wanderungsbewegungen oder gegenseitige Wertzu-
schreibungen) und gleichzeitig der durch eine zunehmende
Internationalisierung und Globalisierung gestiegenen Kom-
plexität der Raumentwicklung gerecht zu werden, die nicht
mehr strukturell und in eindimensionalen Kategorien er-
klärbar ist.
Ein alternativer Ansatz der Raumforschung, der Katego-
risierungen vermeidet, besteht in einer Betrachtung und
Analyse von raumbildenden Prozessen. Dabei ist es zu-
nächst wenig relevant, ob Räume als städtisch oder ländlich
kategorisiert werden. Das Augenmerk liegt eher auf der
Dynamik, der Räume unterworfen sind. Interessant sind
dabei Prozesse der Peripherisierung und der Zentralisie-
rung, da sie das Raumgefüge verändern und Auswirkungen
auf die Lebensverhältnisse der Bewohner haben. Warum
werden bestimmte Räume durch sinkende Wertschätzung
an den Rand gedrängt, während andere an Aufmerksam-
keit, Bedeutung und Macht gewinnen? Warum konzentrie-
ren sich bestimmte (neue) Raumnutzungen in ausgewählten
Regionen, während andere Regionen weniger intensiv
genutzt werden oder eben nicht zum Ziel für Neues werden?
Solche Prozesse der Raumentwicklung betreffen alle
Räume und sind nicht bestimmten Raumkategorien zuzu-
schreiben. Zudem sind sie in der Regel voneinander abhän-
gig und können nicht isoliert betrachtet werden. Die Auf-
wertung bestimmter Regionen (Zentralisierung) schließt in
den meisten Fällen eine Abwertung anderer Regionen (Peri-
pherisierung) mit ein. Die Prozesse, welche diese Dynami-
ken kennzeichnen, sind von multiplem Charakter - sie über-
lagern und verstärken sich. Dabei geht es einerseits um
quantitativ messbare „reale“ Veränderungen, etwa durch
Wanderungen, Wirtschaftsdynamik oder Ausstattung mit
Infrastruktur, andererseits um nur qualitativ erschließbare
„weiche“ Faktoren im Bereich Image und Selbstzuschrei-
bungen, Macht und Diskurs. Schließlich spielt auch die
Position einer Region im weltwirtschaftlichen Gefüge eine
nicht unerhebliche Rolle für ihre Entwicklungsaussichten.
All diese Bereiche überlagern sich in multiplen Formen der
Peripherisierung oder Zentralisierung. Ein Beispiel hierfür
ist der aktuelle politische Diskurs um Metropolregionen in
Deutschland, Polen, Rumänien, Großbritannien und ande-
ren Ländern Europas. Bestimmte Regionen, die als welt-
wirtschaftlich besser vernetzt gelten, haben eine höhere
Anziehungskraft auf Mensch und Wirtschaft, und weil sie
infrastrukturell besonders gut erschlossen und ausgestat-
tet sind, wird ihnen eine höhere Wertigkeit zugesprochen
als anderen. Basierend auf einem normativen Prozess wer-
den dabei neue Peripherien produziert - Räume, die abseits
der politische definierten Zentren liegen.
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