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vaten Teilbereichen der Lebensorganisation in kollektive Be-
reiche, zum Beispiel Kindererziehung, Essenseinnahme, Frei-
zeitgestaltung usw.). Zu beachten ist bei solchen Phänome-
nen allerdings, dass die Formen industriell-kapitalistischer
Organisation der Gesellschaft gelegentlich im Phänomen
völlig übereinstimmen können (z. B. Produktionsprinzipien
nach den economies of scale ) mit den Ausprägungen des
real existierenden sozialistischen Lebens (Konvergenzhypo-
these basierend auf Beobachtungen zu Gemeinsamkeiten
in dominanten technologischen Verfahren in beiden Gesell-
schaftsformen). Der ideologische Diskurs der Sozialisti-
schen Stadt ist nicht in der Sowjetunion allein entstanden
und auf sie beschränkt, sondern vielmehr eine internatio-
nale Reaktion von Städtebauern auf die Missstände früher
Industriestädte, in denen die Kapitalisierung des Produk-
tionsfaktors Boden/Fläche einen bis dahin noch unbekann-
ten Höhepunkt erreichte (unregulierte Bodenspekulation,
Abhängigkeit der Arbeiter als Mieter von Wohnungseigentü-
mern, häufig identisch mit Fabrikbesitzern als Arbeitgebern
usw.; Versuch der Abhilfe u. a. durch die funktionsgetrennte
Stadt).
Demgegenüber soll mit „sozialistische Stadt“ derjenige
historisch-genetische Stadttyp bezeichnet werden, der
nach einer vorsozialistischen Entwicklung unter den Ein-
fluss eines sozialistisch-planwirtschaftlichen Regulierungs-
systems gekommen ist. Das kleingeschriebene Adjektiv
soll kennzeichnen, dass ihre Eigenschaften an der realen
Situation, nicht an einer festgelegten Utopie gemessen
werden.
Die ursprüngliche Stadtanlage der sozialistischen Städ-
te entspricht also nicht den oben beschriebenen Idealvor-
stellungen, da sie in historisch-gesellschaftlichen Zusam-
menhängen entstanden sind, die andere Entwicklungsziele
(z. B. kapitalistische) verfolgten bzw. Verwertungsinteres-
sen hatten. Dementsprechend erfüllen sie durch ihre struk-
turelle Anlage und durch ihre Funktionszusammenhäng nur
bedingt die Forderung, die sozialistische Gesellschaft in
ihrem Werden zu unterstützen. Deshalb galt für die sozialis-
tischen Stadtplaner in ebendiesen Städten, die städtische
Struktur in Grund- und Aufriss, vor allem aber in ihren Funk-
tionen im Verlauf der Geschichte zur Erfüllung der Ideal-
funktion umbauen zu müssen. Weil dieser Umbau praktisch
kaum einmal abgeschlossen sein konnte, weisen sozialisti-
sche Städte immer Strukturmerkmale auf, die auf ältere
Epochen ihrer Geschichte hinweisen bzw. aus den vormals
geltenden Funktionsansprüchen der städtischen Gesell-
schaft zu begründen sind. Diese Merkmale können natür-
lich im absoluten Widerspruch zu den Ansprüchen der sozi-
alistischen Gesellschaft stehen - oder anders formuliert:
Strukturen und Handlungen in solchen städtischen Räumen
sind immer als Ergebnisse von historischen Prozessen zu
verstehen.
Die meisten Städte in den sogenannten sozialistischen
Ländern sind solche sozialistischen Städte, das heißt, die
vorhandenen Baukörper und manchmal auch Teile der
Grundrisse wurden den neuen Erfordernissen in der Ge-
schwindigkeit angepasst, die volkswirtschaftliche Leistung
und Steuerungsfähigkeit bzw. Steuerungsbedürfnis der
Regierungen zuließen. Typisch ist zunächst eine Konzentra-
tion des Umbaus auf zentrale Plätze und Straßen mit hohem
repräsentativem und symbolischem Wert, bevor andere
Funktionsteile der Städte in Angriff genommen wurden
(Abb. 2).
Konsequenterweise sollte dann natürlich auch der Be-
griff „postsozialistische Stadt“ so lange klein geschrieben
werden, wie keine eigene Theorie dieses Stadttyps, ge-
schweige denn seiner übergeordneten Aufgabe, existiert
und es sich immer nur um eine Stadt handeln kann, die sich
im Umbau von einer Sozialistischen oder sozialistischen
Stadt zu einem „anderen“ Stadttyp befindet - sofern man
überhaupt von einem „Typ“ sprechen will, dürfte es sich aus
struktureller Perspektive also um einen Übergangstyp han-
deln, dessen Ursprung aber noch länger deutlich wahrzu-
nehmen sein wird. Die Transformation dieser Städte hat in
der Regel dort besonders virulent angesetzt, wo sozialisti-
sche Nutzungs- und Steuerungsformen den marktwirt-
schaftlichen Verwertungsinteressen sehr eindeutig ent-
gegengestanden haben.
Abb. 2 Typisch für sozialistische
Städte ist die Gestaltung innerstäd-
tischer Plätze in einer Weise, die
ihre Repräsentationsfunktion für
das Gesellschaftssystem hervorhebt
- hier der Lenin-Platz in Stavropol
(Südrussland). Damit entsteht ein
scharfer Kontrast zu Städten, in
denen die Gestaltung des Zentrums
wesentlich durch marktwirtschaftli-
che Kräfte gesteuert wird
(Foto: Sebastian Lentz).
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