Geography Reference
In-Depth Information
Exkurs 7.2
Städtenetze in Oberitalien und in den Burgundischen
Niederlanden im späten Mittelalter
Raf Verbruggen
Städtenetze und -hierarchien sind nicht nur für Geographen
ein spannendes Forschungsfeld, auch bei Historikern hat
das Studium der externen Verbindungen städtischer An-
siedlungen eine lange Tradition. Beeinflusst durch geogra-
phische Theorien entwickelten die Historiker ein duales
Urbanisierungsmodell (Hohenberg & Lees 1995). Es geht
davon aus, dass Städte und Gemeinden einerseits einem
System von zentralen Orten zugeordnet werden können,
innerhalb dessen sie mit ihrem Umland über die Versorgung
mit zentralen Gütern und Dienstleistungen für ihr Umland
verbunden sind. Auf der anderen Seite sind sie Teil eines
größeren Netzwerks, innerhalb dessen Städte über ihr
jeweiliges Umland hinaus durch den Austausch von Perso-
nen, Gütern, Kapital, Informationen etc. miteinander ver-
bunden sind. Stadt-Umland-Beziehungen finden dabei auf
lokaler Ebene innerhalb abgegrenzter Räume statt und sind
typischerweise hierarchischer Natur. Zwischenstädtische
Beziehungen innerhalb eines Netzwerksystems sind nicht
verortet und beruhen eher auf horizontalen als auf unglei-
chen Beziehungen zwischen Städten (Taylor et al. 2010).
Hier soll eine kurze Einführung in das System der zen-
tralen Orte und jenes Netzwerks gegeben werden, in dem
die Städte und Gemeinden Nord- und Mittelitaliens sowie
des Gebiets der heutigen Niederlande, Belgiens und Luxem-
burgs sowie Teile Nordfrankreichs und Westdeutschlands
agierten. Der südliche Teil dieser sogenannten Burgund-
ischen Niederlande und Oberitalien waren im späten Mittel-
alter (ca. 1300 bis ca. 1500) die am dichtesten besiedelten
Regionen in Europa. Die dortigen Entwicklungen prägten
die urbanen Strukturen des Kontinents so nachhaltig, dass
sie noch heute erkennbar sind (Abb. 1; Clark 2009).
Während sich das System der zentralen Orte im späten
Mittelalter durch ein Muster von mehr oder weniger unab-
hängigen großen Städten auszeichnete, die kleinere Ort-
schaften in ihrem jeweiligen Umland kontrollierten, kam es
mit dem Übergang zur frühen Moderne zur Eingliederung
dieser großen Städte in die übergeordnete Raumstruktur
des Staates. Dabei existierten bedeutende regionale Unter-
schiede. In Nord- und Mittelitalien begannen einige sehr
große Städte, verstärkt ihre Nachbarn zu kontrollieren, und
in den sich ab dem 15. Jahrhundert entwickelnden Territori-
alstaaten war der Großteil der Städte einer Hauptstadt
untergeordnet. Das war besonders der Fall im Großherzog-
tum Toskana, in dem Florenz politisch und wirtschaftlich
Städte wie Pisa, Arezzo und Prato dominierte. Demgegen-
über gelang es in der Republik Venedig Städten wie Verona,
Brescia, Padua und Vicenza, eine relativ hohe Unabhängig-
keit gegenüber der Hauptstadt zu wahren (Belfanti 2001).
Ein anderes Bild zeigte sich in der Grafschaft Flandern.
Obwohl die Großstädte Gent und Brügge bis zur Mitte des
14. Jahrhunderts de facto die Hoheit über zahlreiche Ansie-
delungen in ihrem Umfeld hatten, entwickelten sie sich nie
zu unabhängigen Stadtstaaten. Die Eingliederung Flanderns
in den größeren Rahmen des Burgunderreiches am Ende
des 14. Jahrhunderts brachte eine institutionelle Zentrali-
sierung und einen Verlust des Einflusses der Großstädte auf
ihre kleineren Nachbarn mit sich (Stabel 2008).
Obwohl sie ihren Wirkungskreis in verschiedenen Syste-
men zentraler Orte entfalteten, waren die Städte Nord- und
Mittelitaliens und die flämischen Städte im Spätmittelalter
Teil ein und desselben Netzwerks. Dem französischen His-
toriker Fernand Braudel (1979) zufolge waren diese beiden
dicht besiedelten Regionen die Ausgangspunkte einer bipo-
laren, auf Europa zentrierten Weltwirtschaft, die sich zwi-
schen dem 11. und 13. Jahrhundert entwickelte. Innerhalb
dieser Weltwirtschaft waren die südlichen Burgundischen
Niederlande eine bedeutende Region der Textilproduktion.
Die von Handwerkern aus Städten wie Gent, Lille, Mechelen
oder Brüssel und weiteren zahlreichen kleineren Ortschaf-
ten hergestellten Textilien wurden durch das Handels-
zentrum ( gateway ) Brügge weltweit exportiert. Viele weitere
italienische Städte waren ebenso bedeutsame Produktions-
zentren. Die Spezialität der nord- und mittelitalienischen
Städte bestand darin, als Mittler zwischen den reichen
Märkten des östlichen Mittelmeerraums und den industriel-
len Zentren Nordwesteuropas zu fungieren, wobei sie we-
südliche
Burgundische Niederlande
Name
Nord- und Mittelitalien
Name
Bevölkerung
Bevölkerung
der Stadt
der Stadt
Mailand
100 000
Gent
55 000
Venedig
100 000
Antwerpen
50 000
Genua
58 000
Brügge
40 000
Florenz
55 000
Tournai
35 000
Bologna
50 000
Brüssel
35 000
Verona
50 000
Brescia
49 000
Ferrara
42 000
Cremona
40 000
Abb. 1 Einwohnerzahlen der nord- und mittelitalienischen
Großstädte und der südlichen Burgundischen Niederlande
um 1500 (verändert nach: Clark 2009).
 
Search WWH ::




Custom Search