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rungen innerhalb der EU das Freizügigkeitsprinzip. Sie
nehmen damit den Charakter einer Binnenmigration
an. Diese Umdeutung wird von der EU unterstützt, die
politisch, begrifflich-rhetorisch und rechtlich zwischen
der „Migration“ von „Drittstaaten-Angehörigen“ und
der „Mobilität“ von EU-Bürgern unterscheidet (Boswell
& Geddes 2010). Die Konstruktion eines „EU-Migra-
tionsraums“ generiert und verfestigt daher Hierarchisie-
rungen zwischen Migrationsbewegungen und Migran-
ten hinsichtlich des Herkunftslands, der Qualifikation
und des Status - das gegenwärtige Ungleichheitsspek-
trum reicht von Hochqualifizierten aus EU-Mitglied-
staaten bis zu Flüchtlingen aus armen „Drittstaaten“
(King 2002). Hierarchisierungen von Migranten sind
freilich nicht statisch, sondern verändern sich mit poli-
tischen Grenzziehungen, ökonomischen Interessen oder
demographischen Entwicklungen (wie die vorangegan-
genen Teilkapitel illustrieren). Auch die Pluralisierung
der Migrationsbewegungen in, aus und nach Europa
wird erst im Kontext politischer, ökonomischer und ge-
sellschaftlicher Dynamiken verständlich.
keiten und Gegenstandspassung im wissenschaftlichen
Diskurs selbstkritisch reflektiert werden.
Weniger selbstkritisch, dafür umso vielfältiger und
oft folgenreicher sind Bevölkerung und Migration auch
zentrale Gegenstände außerwissenschaftlicher Kommu-
nikationen. Typischerweise ist diese Kommunikation
räumlich indiziert, und Geburtenhäufigkeit, Sterblich-
keit wie Migration werden mit territorialem - im Falle
Europas auch kontinentalem - Bezug erfasst. Nicht nur
die Politik, auch die Wirtschaft, das Bildungs- und Ren-
tensystem und viele andere gesellschaftliche Systeme
und Felder beobachten Populationen, demographischen
Wandel oder migrationsinduzierte Veränderungen in
ihrer Umwelt, auf die sie sich mit verschiedenen Mitteln
einstellen oder die sie zu gestalten und zu beeinflussen
versuchen. Weder ist also Bevölkerung mit Gesellschaft
zu verwechseln, noch konstituiert Bevölkerung Gesell-
schaft(en). Stattdessen sind Bevölkerung und Migration
als gesellschaftliche Produkte zu verstehen. Die Plausibi-
lität dieser Annahme wird durch die vorgenommene
Rekonstruktion der europäischen Bevölkerungsent-
wicklung mit ihren unterschiedlichen Phasen räumlich
differenzierter Geburtenhäufigkeit, Sterblichkeit und
Migrationsverhältnisse belegt.
Der Europabezug verweist auf die analytische Bedeu-
tung der Berücksichtigung gesellschaftlicher Strukturen
(Wissensordnungen, Machtkonstellationen, ökonomi-
sche Verhältnisse) in besonderer Weise. Am Beispiel
Europas zeigen sich nicht nur eindrucksvoll die Vielge-
staltigkeit, Vielschichtigkeit und Wandlungsfähigkeit
von demographischen und migratorischen Phänome-
nen. Vielmehr unterliegt auch Europa kommunikativen
und damit gesellschaftlichen Herstellungsprozessen. Sie
betreffen territoriale Ent- und Begrenzungen ebenso wie
die Mehrebenenpolitik des europäischen Integrations-
und Erweiterungsprozesses. Europa bezeichnet in dieser
konstruktivistischen, de-essentialisierenden Perspektive
sowohl gesellschaftliche Strukturen und ihren Wandel
als auch eine sich wandelnde Semantik, die eben diese
gesellschaftlichen Veränderungen begleitet und ermög-
licht. Die Zwei-Seiten-Eigenschaft Europas (Struktur
und Semantik) gilt für das Europa der Aufklärung und
der Nationalstaaten ebenso wie für Europa als europäi-
sche Wirtschaftsgemeinschaft mit Freizügigkeitsprinzip,
als grenzenloser Schengen-Raum oder als supranatio-
nale Europäische Union mit schrumpfender Bevölke-
rung und eigener Migrationspolitik.
Der geographische Beitrag zur Erforschung und
zukünftigen Gestaltung Europas wird folglich nicht
zuletzt darin bestehen, den Wandel europäischer Bevöl-
kerungsstrukturen und Migrationsverhältnisse vor dem
Hintergrund der gesellschaftlichen Konstruktion Euro-
pas zu begreifen.
Europäische Bevölkerungs-
strukturen und Migrations-
verhältnisse?
Die quantitativen und qualitativen Veränderungen der
europäischen Bevölkerungsstrukturen und Migrations-
verhältnisse verdeutlichen die Heterogenität, die Varia-
bilität und die gesellschaftliche Kontextgebundenheit
der behandelten Thematik. Nicht nur Bevölkerung und
ihr Wandel unterliegen gesellschaftlichen Prozessen,
auch das, was als Bevölkerung erscheint, ist nur be-
schreib-, analysier- und gestaltbar, weil und indem es
kommunikativ als spezifischer Beobachtungsgegenstand
hervorgebracht, unterschieden und relevant gemacht
wird. Bevölkerungsforscherinnen und -forscher wissen
um diese Abhängigkeit ihres Untersuchungsobjekts von
den beobachtungsleitenden Unterscheidungen. Beob-
achtete Realität ist stets beobachtete Realität. Zwar wer-
den zum Beispiel bevölkerungs- und migrationsbezo-
gene Strukturen, Muster und Veränderungen in dem
Bemühen um größtmögliche Objektivität beschrieben.
Doch natürlich basieren ihre Beschreibungen immer auf
Begriffen, Begriffsdefinitionen und Beobachtungssche-
mata, ohne die das Beobachtete nicht oder nur anders zu
beobachten und zu beschreiben wäre. Ob Theorien des
Ersten oder Zweiten demographischen Übergangs, der
Migrationssysteme oder der transnationalen Mobilität -
sie alle dienen zunächst der wissenschaftlichen Beschrei-
bung, Analyse und Abstraktion. Sie sind Modelle und
Interpretationsangebote, deren Anwendungsmöglich-
 
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