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europäischen Staaten in Richtung Süden, wobei klimati-
sche Gründe zumindest vordergründig als primärer Beweg-
grund für die (Aus-)Wanderung genannt werden (King et al.
2000, Janoschka 2009, Warnes 2009).
Lifestyle migrants lassen sich demzufolge als Protagonis-
ten tief greifender sozialer Veränderungen in Europa bezeich-
nen, denn sie fordern mit ihren alltäglichen Praktiken (oft
unbewusst) eine ganze Reihe tradierter sozialwissenschaft-
licher Konzepte zu Migration, Tourismus, Heimat oder Iden-
tität heraus, die vielfach davon ausgehen, dass Menschen
einen Lebensmittelpunkt besitzen. Im Gegensatz hierzu
bewegen sie sich in mehreren, aber wechselseitig verknüpf-
ten und zu bedeutungsvollen kulturellen Narrativen zusam-
mengefügten „Welten“. Es wird deutlich, dass die Kategorie
der freizeitorientierten Migration zunächst eine wissen-
schaftliche (und politische) Konstruktion ist, die nicht ein-
deutig objektivierbaren Kriterien folgt. Wenngleich ein bedeu-
tender Teil der Migranten auf eher wohlhabende Pensionäre
oder Unternehmer im Ruhestand entfällt, gibt es auch viele
Rentner, die den beschränkteren finanziellen Möglichkeiten
im Alter entfliehen und die Kaufkraftunterschiede innerhalb
Europas dazu nutzen, um sich einen im Heimatland nicht
erreichbaren Lebensstil zu ermöglichen (Kordel 2009).
Gleichzeitig lassen die Migranten aber auch kulturelle Re-
striktionen, wie zum Beispiel die Zugehörigkeit zu spezifi-
schen sozialen Klassen oder Schichten, hinter sich (Oliver &
O'Reilly 2010). Und im lokalen Umfeld der konkreten Ziele
dieser Migration ist oftmals eine umfassende Dienstleis-
tungsökonomie entstanden, die eine massive (zusätzliche)
Zuwanderung von Individuen und Familien im erwerbsfähigen
Alter induziert, die ebenfalls nach einem „anderen“ Lebens-
stil suchen (O´Reilly 2007). Aus dieser Charakterisierung
wird deutlich, dass es sich um ein empirisch vielschichtiges
und schwer zu fassendes Phänomen handelt.
Die freizeitorientierte Migration zählt mittlerweile zu den
globalen Mobilitätsmustern, wobei innerhalb der EU (wie
auch weltweit) Spanien weiterhin die wichtigste Destination
dieser internationalen Bevölkerungswanderung darstellt.
Gegenwärtig sind in Spanien offiziell mehr als 1,2 Millionen
„europäische Residenten“, wie sich viele der freizeitorien-
tierten Zuwanderer selbst bezeichnen, gemeldet; mehr als
400 000 von ihnen sind über 55 Jahre alt (Janoschka 2010,
Rodríguez et al. 2010). Erst mit weitem Abstand folgen
andere EU-Staaten wie Italien, Frankreich, Portugal, Grie-
chenland sowie neuerdings auch Zypern, Malta, Bulgarien,
Ungarn, Kroatien und die Türkei. Allerdings sind - auch auf-
grund der geringen Anreize, sich registrieren zu lassen -
offizielle Daten zur freizeitorientierten Migration mit großen
Unwägbarkeiten verbunden (Janoschka & Haas 2011). Das
grenzenlose Europa sowie vielfältige Aspekte der indivi-
duellen Lebensführung erschweren eine aussagekräftige
Quantifizierung. Sie führen zu einer systematischen Unter-
schätzung des empirischen Phänomens durch amtliche Sta-
tistiken. Die Erklärungen für diese Diskrepanz hängen mit
den spezifischen Bedingungen der lebensstilorientierten
Migration zusammen: Viele Zuwanderer führen zum Bei-
spiel die Anmeldung am neuen Wohnort nicht durch, weil
sie neben ihrem Haus an der spanischen Küste auch eine
Wohnung (und damit einen steuerlich wirksamen Wohnsitz)
in Deutschland, Belgien oder Großbritannien besitzen. Zahl-
reiche Residenten der „Generation 50plus“ pendeln regel-
mäßig zwischen zwei Orten; ihr Leben gleicht einem quer zu
den starren Meldeformalitäten eines Staatswesens liegen-
den „Patchwork“ transnational organisierter Lebensent-
würfe. Auch vermeiden viele lebensstilorientierte Zuwande-
rer trotz ihres permanenten Umzugs bewusst die offizielle
Registrierung am neuen Wohnort. Ausschlaggebend ist
hierfür unter anderem die Furcht vor (teils unbegründeten)
sozialrechtlichen Konsequenzen, die mit der Formalisierung
des Aufenthalts einhergehen (würden), zum Beispiel der
Wechsel in eine andere Krankenversicherung, die Auszah-
lung der Rente auf ein lokales Bankkonto oder die Versteu-
2011). Dazu gehören neben politischen Bedingungen
wie der Einschränkung „legaler“ Zuwanderungsmög-
lichkeiten in die (west-)europäischen Länder starke öko-
nomische Faktoren: zum Beispiel die Nachfrage nach
Arbeitskräften im informellen Sektor der postfordisti-
schen Ökonomien Westeuropas sowie, allgemeiner, die
globalen wirtschaftlichen Disparitäten, die einen be-
ständigen „Wanderungsdruck“ aus dem „globalen Sü-
den“ in Richtung „globaler Norden“ generieren.
Im Zuge der vielfältiger werdenden Wanderungen in
und nach Europa hat sich die Bevölkerung der europä-
ischen Gesellschaften verändert. Insbesondere für west-
europäische Städte kann heute von einer super-diversity
(Vertovec 2007) gesprochen werden: Zur wachsenden
Diversität der nationalen und ethnischen Herkünfte der
städtischen Bevölkerungen kommt die allgemeine Ten-
denz der Heterogenisierung des rechtlichen und sozio-
ökonomischen Status, der Alters- und Gender-Profile,
der Religionszugehörigkeiten und der räumlichen Ver-
teilungsmuster hinzu.
Sucht man nach den großen Entwicklungslinien des
europäischen Migrationsgeschehens und regionaler
Migrationsräume, verdeckt dieser Blick leicht Migra-
tionsformen, die nicht in die gängigen Beobachtungs-
schemata passen, die aber ebenfalls zur Pluralisierung
der europäischen Migration beitragen.
Ein Beispiel dafür sind Wohlstands-, Ruhestands-
und „Lifestyle“-Wanderungen, zumeist von Menschen
aus Nordeuropa in die wärmeren Regionen im Süden
Europas. Sie sind zum Teil saisonal begrenzt und damit
eine Form transnationaler Mobilität mit fließenden
Grenzen zum Tourismus, zum Teil sind sie auch mit län-
gerfristigen Aufenthalten verbunden (Exkurs 6.7).
Die internationale Mobilität bzw. Migration von Stu-
dierenden trägt heute ebenso zur Vielfalt der europä-
ischen Migration bei. Innerhalb der EU wird sie seit
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