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von Ost nach West sind meist temporäre Pendelwande-
rungen bzw. zirkuläre Bewegungen. Das bedeutet, dass
die Menschen wiederholt und für begrenzte Zeiträume
zur Arbeitsaufnahme in ein anderes Land einreisen,
ihren Wohnsitz jedoch im Herkunftsland beibehalten
und enge soziale Beziehungen zum Herkunftsort pfle-
gen - über häufige Besuche und telefonische Kontakte,
längere Aufenthalte und Geldüberweisungen. Aufgrund
der Tatsache, dass bei dieser temporären Wanderungs-
form weder ein eindeutiger Wohnortwechsel stattfindet
noch von einer Mindestdauer der Aufenthalte am Ziel-
ort ausgegangen werden kann, beschreibt der Begriff der
„transnationalen Mobilität“ diese Bewegungen präziser
als das Konzept der „transnationalen Migration“ (Fass-
mann 2008).
Ein weiteres Merkmal der sich in den 1990er-Jahren
entwickelnden Migrationsformen ist ihr semi-irregulä-
rer Charakter. Nach einer oft noch „legalen“ Einreise
über Touristenvisa nehmen die Migranten teilweise eine
informelle Beschäftigung auf, zum Beispiel auf dem
Bau, in personenbezogenen Dienstleistungen oder als
Saisonkräfte in der Landwirtschaft: So arbeiten bei-
spielsweise polnische und ukrainische Männer auf
Baustellen in Berlin, Wien oder Stockholm und rumäni-
sche und polnische Frauen als Haushaltshilfen oder Rei-
nigungskräfte in Italien, Spanien oder Deutschland. Die
hohe Nachfrage nach Arbeitskräften im informellen
Sektor der westeuropäischen Länder und die bessere
Bezahlung einerseits sowie die niedrigeren Lebenshal-
tungskosten in den Staaten Mittel- und Osteuropas
andererseits bilden den ökonomischen Anreiz für diese
temporären Arbeitswanderungen (Okólski 2007). Es
wäre jedoch zu kurz gedacht, angesichts der Konzentra-
tion in informellen und sekundären Segmenten des
Arbeitsmarktes anzunehmen, dass die transnationalen
Arbeits-„Mobilen“ nur gering qualifizierte Bevölke-
rungsgruppen umfassen. In den Zeiten radikalen wirt-
schaftlichen Umbruchs und hoher Arbeitslosigkeit in
Mittel- und Osteuropa sahen selbst höher qualifizierte
Menschen in den einfachen und prekären Arbeitsmög-
lichkeiten auf dem sekundären Arbeitsmarkt Deutsch-
lands, Frankreichs oder Österreichs bessere Verdienst-
möglichkeiten und Perspektiven. Dieses Muster der
Dequalifikation ( deskilling ) betrifft insbesondere Mi-
grantinnen. Transnationale Arbeitsmigration bzw. -mo-
bilität wurde für viele zu einer Alternative zur definiti-
ven Auswanderung und zu einer Strategie, die erlaubt,
die eigene Lebenssituation zu verbessern und trotzdem
den Lebensmittelpunkt nicht aufgeben zu müssen
(Morokvasic et al. 2008).
Mit den regelmäßigen Wanderungsbewegungen in
beide Richtungen entstanden neue transnationale und
translokale soziale Räume zwischen den Herkunfts- und
den Zielländern. Netzwerke von Migranten aus gemein-
samen Herkunftsländern, -regionen und -gemeinden
bildeten sich heraus und unterstützten weitere transna-
tionale Wanderungen aus den mittel- und osteuropäi-
schen Ländern. Dies gilt nicht nur für die größten
Migrationsströme aus Polen und Rumänien, sondern
auch für Migrationsbeziehungen geringeren Umfangs.
Migrationsnetzwerke spielen eine zentrale Rolle bei der
Vermittlung von Arbeitsplätzen und Wohnraum, bei der
Weitergabe von Informationen über Möglichkeiten und
Restriktionen der Einreise und des Aufenthalts sowie bei
der Bereitstellung materieller und immaterieller Res-
sourcen. Enge soziale Kontakte zwischen Migranten
können außerdem die regelmäßige Mobilität zwischen
Herkunftsort und Arbeitsort vereinfachen. Ein Beispiel
dafür sind selbstorganisierte „Rotationssysteme“ polni-
scher Frauen, die in Deutschland, Belgien oder Italien als
Haushalts- und Pflegekräfte beschäftigt sind und sich in
ihren Arbeitsphasen abwechseln (Morokvasic et al.
2008).
Neue Geographien der Wanderungen
Seit Mitte der 1990er-Jahre hat sich die „Karte“ der
Migrationsbewegungen in und aus den ehemaligen
Staaten jenseits des „Eisernen Vorhangs“ verändert. Die
Wanderungsziele haben sich erweitert und umfassen
nun nicht mehr nur die traditionellen, geographisch
näher gelegenen Zuwanderungsländer wie Deutschland
oder Österreich. Im Lauf der Zeit verlagerten sich die
Wanderungen zunehmend in Richtung der südeuropäi-
schen Länder Italien, Spanien, Griechenland und Portu-
gal. Dabei spielte auch eine Rolle, dass sich diese Länder
gegenüber irregulären Aufenthalten und Arbeitsformen
toleranter zeigten. Das Problem der irregulären Arbeits-
migration versuchten wiederum andere Länder, unter
anderem Deutschland, Frankreich, Großbritannien, Bel-
gien oder die Schweiz, über bilaterale Abkommen mit
mittel- und osteuropäischen Ländern zu regulieren und
zu kontrollieren. Spezielle Programme betrafen insbe-
sondere die Beschäftigung von Saisonarbeitern, die als
flexible Arbeitskräfte für die arbeitsintensiven Bereiche
der heimischen Landwirtschaft unverzichtbar geworden
waren (Becker 2010).
In den 1990er-Jahren veränderte sich auch die Geo-
graphie der Migration in Mittel- und Osteuropa selbst.
Eine „,neue' Geographie der Ost-West-Wanderung“
(Fassmann & Münz 2000) entstand, die nicht durch den
einstigen Verlauf des „Eisernen Vorhangs“ bzw. die über
Jahrzehnte hinweg etablierte Grenze zwischen „Ost“
und „West“ strukturiert war. Die Migrationsbewegun-
gen verschoben sich vielmehr ostwärts: Tschechien,
Ungarn, die Slowakei und Polen wurden zu Zielen der
internationalen Zuwanderung (Abb. 6.20) - zum Teil
zeitgleich mit einer anhaltend hohen Auswanderungs-
rate wie im Falle von Polen. Einen Teil der neuen
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