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quelle der Zuwanderung ab Mitte der 1970er-Jahre war
der noch mögliche und durch Gesetzesänderungen
faktisch forcierte Familiennachzug, zum Beispiel wurde
in Deutschland ab 1975 das Kindergeld für im Her-
kunftsland lebende Kinder ausländischer Arbeitnehmer
deutlich reduziert (Hunn 2005). Das vor den 1970er-
Jahren etablierte europäische Arbeitsmigrationssystem
beeinflusste weiterhin die Pfade der internationalen
Wanderungen in Europa. Dies galt auch für die ent-
gegengesetzte Richtung, denn gleichzeitig kehrten Hun-
derttausende Migranten, die von der wirtschaftlichen
Rezession betroffen waren, in ihre Herkunftsländer zu-
rück (Santel 1995). Die Wanderungsrichtungen waren
in den verschiedenen Herkunftsregionen unterschied-
lich ausgeprägt. Aus den Ländern, die eher spät in das
Arbeitsmigrationssystem eingetreten waren, wie die
Türkei, war der Familiennachzug stärker und dauer-
hafter als aus den Ländern des südlichen Europas, in
denen die Rückwanderungen überwogen. Beispielsweise
kehrte die Hälfte der etwa 1 Million griechischen „Gast-
arbeiter“ nach Griechenland zurück (Bade 2000). Die
Bürger der südeuropäischen Staaten wurden infolge der
Europäischen Integration sukzessive von dem Zuwande-
rungsstopp ausgenommen; dies vereinfachte Wande-
rungen in beide Richtungen. Die italienischen Arbeit-
nehmer konnten schon von Beginn an vom 1957
eingeführten Freizügigkeitsprinzip innerhalb der Euro-
päischen Wirtschaftsgemeinschaft profitieren, die Ar-
beitnehmer der anderen ehemaligen Entsendeländer
Südeuropas erst ab 1987 (Griechenland) bzw. 1992
(Spanien und Portugal).
Durch die Familien- und Rückwanderungen verän-
derte sich die Zusammensetzung der ausländischen
Bevölkerung in den Anwerbeländern. War die Gast-
arbeitermigration deutlich männlich dominiert gewe-
sen, so stieg nun die Anzahl der Frauen und Kinder.
Der Anteil der erwerbstätigen Personen ging dagegen
sukzessive zurück (Santel 1995). Spätestens mit der
Familienmigration wurde sichtbar, dass die nord- und
westeuropäischen Länder durch die ursprünglich als
zeitlich begrenzt konzipierte Gastarbeitermigration
faktisch zu Einwanderungsländern geworden waren.
Trotz ihrer restriktiven Zuwanderungspolitiken wiesen
seit Ende der 1970er-Jahre alle Zielländer (mit Aus-
nahme Großbritanniens) bis in die jüngste Vergangen-
heit eine positive Wanderungsbilanz auf (Bade 2000).
Im Zuge der Zuwanderung und des natürlichen Wachs-
tums durch Geburten nahm die ausländische Bevölke-
rung in den europäischen Ländern zu (Abb. 6.18).
Paradoxerweise hatte für diese Verfestigung der Ein-
wanderungssituation gerade der Anwerbestopp eine
entscheidende Rolle gespielt: Plötzlich sahen sich die
Arbeitsmigranten mit der Alternative konfrontiert, sich
entweder dauerhaft im Aufnahmeland niederzulassen
und ihre Familie nachzuholen oder definitiv in ihr Her-
kunftsland zurückzukehren, da eine Rückkehr auf Zeit
nun nicht mehr möglich war. In dieser Situation ent-
schieden sich viele Migranten für die erste Möglichkeit:
für das Bleiben (Bade 2000).
Waren in den 1950er- bis 1970er-Jahren die Migra-
tionsbewegungen in Europa in ihren Richtungen und
Formen noch klar zu bestimmen - primär als Arbeits-
migrationen von der europäischen Peripherie und den
ehemaligen Kolonien ins Zentrum -, so wurde das Bild
nach dem Anwerbestopp 1973/74 komplexer. Neben
dem Familiennachzug stieg auch die Zuwanderung von
Asylsuchenden und irregulären Migranten, unter an-
derem auch deshalb, weil andere Einwanderungsmög-
lichkeiten radikal beschränkt worden waren. Teilweise
folgten diese Migrationsbewegungen den mit der Gast-
arbeitermigration etablierten Migrationspfaden und
wurden durch schon bestehende Netzwerke kanalisiert.
Insgesamt lässt sich seit den 1970er-Jahren eine unver-
kennbare Diversifizierung der Herkunfts- und Ziellän-
der der Migranten feststellen. Von großer Bedeutung
hierfür sind zwei zentrale Entwicklungen: die Migra-
tionsbewegungen aus Mittel- und Osteuropa und der
Wandel der südeuropäischen Länder von Emigrations-
zu Immigrationsländern.
Der Fall des „Eisernen Vorhangs“:
Migration in und aus Mittel- und
Osteuropa
Auf das Migrationsgeschehen in Europa in den Jahr-
zehnten nach dem Zweiten Weltkrieg hatte die politische
Trennung durch den „Eisernen Vorhang“ erhebliche
Auswirkungen. Die traditionellen europäischen Binnen-
wanderungen, die beispielsweise im 19. und frühen
20. Jahrhundert polnische Arbeitskräfte zur Arbeit in
der Kohle- und Stahlindustrie ins Ruhrgebiet, nach
Lothringen oder Nordfrankreich geführt hatten (Pras-
za
owicz 2007), waren bis 1990 massiv eingeschränkt.
Nach den massenhaften, meist unfreiwilligen Migra-
tionsbewegungen von ethnischen Minderheiten in der
direkten Nachkriegszeit, von denen geschätzte 30 Milli-
onen Menschen in Mittel- und Osteuropa betroffen
waren, reduzierte sich die Ost-West-Wanderung in der
Zeit des Kalten Krieges auf einzelne, klar begrenzte
Migrationswellen (Fassmann & Münz 2000): In der
politischen und medialen Öffentlichkeit besonders prä-
sent war die Auswanderung politischer Flüchtlinge, die
im Zusammenhang mit den politischen Krisen in
Ungarn 1956/57, in der Tschechoslowakei 1968 und in
Polen Anfang der 1980er-Jahre Asyl im „Westen“ such-
ten, dazu die Migration von insgesamt ungefähr
5,2 Millionen DDR-Bürgern in die BRD sowie von „eth-
nischen Minderheiten“, beispielsweise „Aussiedlern“ aus
Polen oder Rumänien, nach Deutschland (Fassmann &
ł
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