Geography Reference
In-Depth Information
Das westeuropäische
Arbeitsmigrationssystem
gen“ und für einheimische Arbeitskräfte immer weniger
attraktiven Tätigkeiten ausübten, wie Fließbandmon-
tage, Arbeit in der Textil- und Schwerindustrie, in der
Landwirtschaft, am Bau oder im Reinigungssektor. Es
gab auch weibliche „Gastarbeiter“, wenn sie auch zah-
lenmäßig klar in der Minderheit blieben. So waren bei-
spielsweise nach 1967 etwa ein Drittel der aus der Tür-
kei in die BRD zuwandernden Arbeitskräfte Frauen
(Bade 2000). Neben der durch bilaterale Abkommen
ermöglichten institutionalisierten Anwerbung einer
„Reservearmee“ von Arbeitskräften fand auch unregu-
lierte Arbeitsmigration statt. Beispielsweise reiste die
Mehrheit der spanischen und portugiesischen Arbeiter
in Frankreich spontan mit einem Touristenvisum ein
und „regularisierte“ den Aufenthalt erst nach der Auf-
nahme einer Beschäftigung (Bade 2000).
Ausländische Arbeitskräfte wurden nicht nur in den
westeuropäischen Ländern rekrutiert. Der Blick auf die
Arbeitsmigrationen der Nachkriegsjahrzehnte vernach-
lässigt häufig, dass in der DDR ab den 1960er-Jahren
ebenfalls mehrere Zehntausend sogenannte „Vertragsar-
beiter“, unter anderem aus Vietnam, Mosambik und
Kuba, beschäftigt waren. Ein striktes Rotationsprinzip
verhinderte längere Aufenthalte und schloss den Nach-
zug von Familien aus (Gruner-Domiç 2007). Im Gegen-
satz zur mehrheitlich dauerhaften Zuwanderung aus
den ehemaligen Kolonien und Überseegebieten war die
westeuropäische Gastarbeitermigration über Anwerbe-
abkommen auf Zeit angelegt. Nicht nur die Zielländer
gingen davon aus, dass die „Gastarbeiter“ nach einigen
Jahren wieder in ihre Herkunftsländer zurückkehren
würden, auch die Migranten selbst verfolgten zunächst
eher kurzfristige Migrationsprojekte.
In den 1950er- und 1960er-Jahren war das politische
Klima gegenüber internationalen Zuwanderern in den
Ländern des europäischen Arbeitsmigrationssystems
noch positiv. Die Migration von Arbeitskräften lag im
Interesse sowohl der Aufnahme- als auch der Entsende-
länder: Die prosperierenden west- und nordeuropäi-
schen Industrieländer profitierten von den billigen
Arbeitskräften, die ihnen weiteres Wirtschaftswachstum
ermöglichten, während die wirtschaftlich weniger ent-
wickelten südeuropäischen Staaten ihr überschüssiges
Arbeitskräftekontingent „exportieren“ konnten und
durch die Rücküberweisungen der migrierten Arbeiter
Devisen ins Land kamen. Jenseits der jeweiligen natio-
nalen Interessen erhoffte man sich von den Migrations-
beziehungen außerdem eine Förderung des wirtschaft-
lichen Zusammenwachsens Europas - eine Intention,
die sich auch in der Einführung des Freizügigkeitsprin-
zips für Arbeitnehmer der EWG-Staaten 1957 und des-
sen sukzessiver Ausweitung widerspiegelte (Bonifazi
2008).
Bereits in den ersten Nachkriegsjahren begannen Bel-
gien, Frankreich, Luxemburg, die Schweiz und die
Niederlande Arbeitskräfte aus Italien anzuwerben.
Österreich, Schweden und Deutschland kamen zu den
anwerbenden Ländern hinzu. In der ersten Phase der
Gastarbeitermigration war Italien das wichtigste Her-
kunftsland von Arbeitskräften. Weitere Anwerbeabkom-
men wurden in der Folge mit Spanien, Griechenland,
Portugal, Jugoslawien, der Türkei sowie mit Marokko
und Tunesien geschlossen. Auf diesem Netz von bilate-
ralen Anwerbeverträgen aufbauend entstand innerhalb
der 1950er- und 1960er-Jahre ein Arbeitsmigrationssys-
tem mit dem Zentrum Westeuropa, in das ein Kern von
18 Staaten involviert war, zeitweise gar mehr als 20 (Rass
2010; Abb. 6.17). Die geographische Ausdehnung des
Migrationssystems wie die Wanderungsintensität er-
reichten zwischen 1967 und 1972 ihren Höhepunkt
(Rass 2010). Die Herkunftsländer der Arbeitsmigranten
variierten in ihrer Bedeutung für die verschiedenen
europäischen Aufnahmeländer. Neben traditionellen
Migrationsbeziehungen spielten dabei auch der jewei-
lige Zeitpunkt der Anwerbung und die verfügbaren
Kontingente an Arbeitskräften in den Entsendeländern
eine Rolle. Nach Frankreich beispielsweise kamen die
größten Zuwanderergruppen aus Portugal, Spanien und
Italien sowie aus den nordafrikanischen Maghreb-Staa-
ten, nach Deutschland zunächst aus Italien und ab Ende
der 1960er-Jahre vor allem aus der Türkei und Jugosla-
wien, während in den Niederlanden die Migrations-
ströme aus der Türkei und Marokko dominierten (Bade
2000). Besondere Fälle unter den Aufnahmeländern
waren Schweden, das in erster Linie finnische Arbeits-
kräfte anwarb, und Großbritannien, das seinen Arbeits-
kräftebedarf - neben der postkolonialen Migration -
durch die traditionelle Arbeitsmigration aus Irland
deckte.
Innerhalb der Entsendeländer stammten die Arbeits-
migranten zumeist aus armen, ländlichen Regionen,
beispielsweise aus Süditalien, dem westlichen und süd-
lichen Spanien oder dem nördlichen Griechenland
(Bade 2000). Sie verließen ihre Regionen in erster Linie
in der Hoffnung auf bessere ökonomische Perspektiven
in den nördlichen Industrieländern. Auf der Suche nach
Arbeit und besseren Verdienstmöglichkeiten zog es auch
innerhalb der Auswanderungsländer viele Menschen
von der agrarisch geprägten Peripherie in die urbanen
Zentren, und so kam es zeitgleich mit den internationa-
len Wanderungen zu umfänglichen Binnenwanderun-
gen (King 2000).
Die Migrationsströme bestanden mehrheitlich aus
jungen, formal gering oder gar nicht qualifizierten Män-
nern, die in den Industrieländern die „harten“, „drecki-
Search WWH ::




Custom Search