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Impfrate/Morbiditätsrate
Morbidi-
tätsrate
Impfrate
3
Baden
Württemberg
2,5
2
Abb. 1 Impf- und Morbiditätsrate
in Baden und Württemberg (1803-
1871; Impfrate: Anzahl der Impfun-
gen im Verhältnis zur Anzahl der
Geburten des betreffenden Jahres;
Morbiditätsrate: Zahl der Pocken-
fälle pro 1000 Einwohner in den
einzelnen Jahren).
1,5
1
0,5
0
1800
1810
1820
1830
1840
1850
1860
1870
mine. Dass die badische Institutionalisierungsstrategie
einen wirksamen Kompromiss zwischen dem Bedürfnis der
Bevölkerung nach preiswerten, kunstgerechten Impfungen
und dem Wunsch der Ärzte nach Begrenzung des dazu nöti-
gen Aufwandes darstellte, lässt sich in Baden nicht nur aus
höheren Impf- und niedrigeren Durchseuchungsraten als in
Württemberg ableiten (Abb. 1), sondern Baden wurde auch
weniger von Impfprotesten erfasst als sein Nachbar. Deutli-
che Unterschiede ergaben sich auch bei der Eindämmung
von Epidemien: Während es Baden durch systematische
Nachimpfungen entlang der Rheinschiene wiederholt
gelang, das Übergreifen von Epidemien aus dem Elsass zu
verhindern, schlossen unbefriedigendes Engagement der
Ärzte, Impfstoffmangel und Widerstand der Bevölkerung ein
vergleichbares Vorgehen in Württemberg noch nach 1850
aus.
Die historische Entwicklung der Pockenschutzkampag-
nen in beiden Ländern bietet damit nach wie vor Hinweise
für die Ausgestaltung von heutigen Gesundheitsmaßnah-
men. Dies ist insofern der Fall, als die herausragende
Bedeutung struktureller Faktoren - beginnend mit der Auf-
klärung der Bevölkerung und endend mit Maßnahmen zur
Bereitstellung hochwertigen Impfstoffes - nahelegt, dass
eine frühe institutionelle Verankerung der Seuchenpolitik
weit nachhaltigere Erfolge verspricht als der einseitige
Rückgriff auf monetäre oder gesetzliche Druckmittel.
Die verschiedenen Versuche zur Erklärung des Frucht-
barkeitsrückgangs greifen in der Regel auf eine der drei
Bedingungen zurück. Ein sozialer Aufstieg war als Folge
der gesellschaftlichen Veränderungen in steigendem
Maße von der individuellen Leistung und damit von der
Bildung einer Person abhängig. Im Sinne der Auf-
wandskonkurrenz von Mackenroth (1953) kann der
Fruchtbarkeitsrückgang als rationale Reaktion der El-
tern interpretiert werden. Diese Anpassung an den ge-
sellschaftlichen Wandel breitete sich in den großen Städ-
ten aus, wo aufstiegswillige Gruppen hohes Interesse an
einem sozialen Aufstieg, an einer Wohlstandssteigerung,
zumindest an der Sicherung ihres Lebensstandards für
sich und ihre Kinder hatten (Ehmer 2004). Bei Angehö-
rigen unterer Einkommensschichten spielten Armut
und hohe ökonomische Unsicherheit im Falle von Kri-
sen eine entscheidende Rolle. Dieser Wandel war beglei-
tet von einer Säkularisierung, einer fortschreitenden
Lockerung enger Bindungen des Menschen an traditio-
nelle und religiös geprägte Normen und Werte. Kirche
und Staat verloren an Einfluss auf Entscheidungen zu
Partnerschaft, Familiengründung oder Realisierung von
Kinderwünschen, die zunehmend auf rationalen Über-
legungen basierten. Geburtenbeschränkung wurde zu
einem Massenphänomen. Dies war neuartig, nicht je-
doch die Geburtenkontrolle selbst (Livi-Bacci 1999;
Exkurs 6.5).
Lesthaeghe (1977) dokumentiert am Beispiel Bel-
giens, dass Industrialisierung und Verstädterung ihre
Wirkung auf den Fruchtbarkeitsrückgang erst im Kon-
text der Säkularisierung entfalten konnten. Die Reduzie-
rung der Geburtenhäufigkeit setzte in etlichen Teilräu-
men relativ spät ein, obwohl die gesellschaftlichen
Veränderungen bereits weit fortgeschritten waren. Ursa-
che hierfür ist, dass sich Wallonen früher als Flamen
vom traditionellen Gedankengut lösten und dadurch
ihre Verhaltensweise zum Beispiel weniger von religiö-
sen Normen zur Geburtenkontrolle beeinflusst war.
 
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