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Exkurs 6.4
Pockenimpfung
Katharina Mühlhoff
„So schleicht sie von Land zu Land, verschonet nicht des
schwachen Alters, nicht des Mannes, nicht der Mutter und
des Säuglings. Die Kunst der größten Ärzte ist nicht vermö-
gend, den Zehnten, den Siebenten, den Vierten, ja zuweilen
nicht einmal den Dritten zu retten“ (Struve 1797). Hier ist
nicht die Rede von mittelalterlichen Pestepidemien, son-
dern von den Pocken, die im 18. Jahrhundert das Seuchen-
geschehen Europas prägten. Dass die Pocken dem Schre-
cken des „Schwarzen Todes“ kaum nachstanden, belegen
Daten aus Schweden, Frankreich und mehreren deutschen
Staaten, die rund jeden zehnten Todesfall auf sie zurück-
führen (Kübler 1901). Doch verfügte die Medizin mit der
Kuhpockenimpfung Edward Jenners seit 1796 über ein wirk-
sames Schutzmittel. Besondere Förderung fand diese neue
Präventionsmethode in den süddeutschen Staaten, die
beginnend mit Bayern (1807) und bald gefolgt von Baden
(1815) und Württemberg (1818) die Zwangsimpfung aller
Kinder gesetzlich verfügten.
Das Beispiel Badens und Württembergs verdient beson-
dere Aufmerksamkeit, weil es zeigt, dass der Erfolg staat-
licher Seuchenschutzmaßnahmen stark vom regionalen
institutionellen Rahmen abhing. Denn obwohl die Impfpoli-
tik beider Staaten zunächst erfolgreich war und beide
bereits 1803 je 14 000 freiwillige Impfungen melden konn-
ten, ließen sich hohe Impfquoten mit steigender Immunisie-
rung und abnehmender Bedrohung durch Pockenepidemien
nur durch effektive Anreize für Ärzte und Patienten auf-
rechterhalten (Maler 1804, Loetz 1993). Dabei waren die
Gründe für mangelnde Impfbereitschaft vielfältig. Sie reich-
ten von der Angst vor Nebenwirkungen oder religiös moti-
vierten Vorbehalten bis zur ökonomischen Abwägung anfal-
lender Gebühren und Opportunitätskosten. Bei Haushalten,
die am Existenzminimum lebten, wurde dieses Nutzenkalkül
durch malthusische Muster der Familienplanung verschärft:
Sie verweigerten die Schutzimpfung oft gänzlich, um durch
den Pockentod einiger Kinder die Versorgung der überle-
benden Nachkommen zu sichern (Wolff 1998). Zu den
Bedürfnissen der Bevölkerung traten die Interessen der
Impfenden: Ihnen musste eine aufwandsgemäße Vergütung
geboten, Reise- und Verwaltungskosten mussten minimiert
und die regelmäßige Versorgung mit frischem Impfstoff
musste gesichert werden.
Diesen Herausforderungen begegneten beide Staaten
unterschiedlich. Während Württemberg vom allgemeinen
Impfzwang abgesehen kaum in die Organisation der
Immunisierungspolitik eingriff, bemühte sich Baden früh
um Zentralisierung und Standardisierung des Impfwesens.
Dies zeigte sich etwa in der Beschränkung des Impfrechts
auf staatlich besoldete und geprüfte Ärzte, in der Einrich-
tung zentraler Institute zur Impfstoffversorgung und in der
landesweit einheitlichen Durchführung der Impfungen im
Rahmen halbjährlicher öffentlicher Immunisierungster-
Wandel herangezogen. Allerdings konnte dessen Ein-
fluss auf die Reduzierung der Geburtenhäufigkeit
mihilfe empirischer Studien im Princeton European Fer-
tility Project nicht bestätigt werden (Gehrmann 1979,
Huinink 2000, Ehmer 2004):
die Übergangsphase auf nationaler Ebene erheb-
lich verlängern konnten.
Die Anfänge des Geburtenrückgangs in den Regio-
nen waren zeitlich wie räumlich breit gefächert
und setzten sowohl in Städten als auch in länd-
lichen Gebieten früh ein.
Die Reduzierung der Geburtenhäufigkeit setzte in
mehreren Ländern trotz erheblicher Unterschiede
im Fortschritt des gesellschaftlichen Wandels
gleichzeitig ein.
Die Komplexität dieser Ergebnisse kann das Modell des
Ersten Demographischen Übergangs nicht darstellen.
Coale formulierte 1973 drei notwendige Bedingungen,
damit die Verringerung der Geburtenhäufigkeit einset-
zen konnte (Huinink 2000):
Der Rückgang der Sterblichkeit breitete sich als
vorlaufender Indikator ebenfalls unabhängig vom
sozioökonomischen Entwicklungsstand aus.
Es bestehen beträchtliche Differenzen in den
Trends von Fertilität und Mortalität zwischen ver-
schiedenen sozioökonomisch wie ethnisch defi-
nierten Bevölkerungsgruppen.
Paare entscheiden bewusst über die Geburt von Kin-
dern.
Eine geringere Zahl von Nachkommen impliziert
einen Nutzen für die Eltern.
Der Verlauf der Transformation war von beträcht-
lichen sozialen und regionalen Unterschieden ge-
prägt, die bei extremer räumlicher Heterogenität
Effiziente Methoden zur Geburtenkontrolle müssen
zugänglich sein.
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