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Exkurs 6.3
Irland: Sonderfall im 19. Jahrhundert
Anhaltende Geburtenüberschüsse führten in Irland zwi-
schen 1781 und 1841 zu einer Verdoppelung der Einwoh-
nerzahlen auf 8,1 Millionen (Griggs 1980). Die Nahrungs-
mittelnachfrage stieg dadurch kontinuierlich an und konnte
nur durch die Intensivierung bzw. Ausweitung der Landwirt-
schaft gedeckt werden, da Einkommensquellen außerhalb
des Agrarbereichs wie zu dieser Zeit bereits in England
nicht vorhanden waren. Neben der Reduzierung der Brache
breitete sich der Anbau von Kartoffeln aus, die als Haupt-
nahrungsmittel in Verbindung mit Milch die Ernährungssitu-
ation im Vergleich zu Weizen als Grundlage für Brot deutlich
besserten. Bereits 0,4 Hektar landwirtschaftliche Nutzflä-
che ernährte eine Familie. Die mit dem Kartoffelanbau
gestiegene Tragfähigkeit hatte ein Sinken des Heiratsalters
und die Zunahme der Heiratshäufigkeit zur Folge, sodass
sich die Geburtenüberschüsse ausweiteten. Das Bevölke-
rungswachstum führte zwischen 1760 und 1815 zu einem
Anstieg der Pachtpreise um das Vierfache, sodass sich die
zumeist britischen Landeigentümer zunehmend aufge-
schlossen zeigten, vieh- in landwirtschaftlich genutzte Flä-
chen umzuwandeln.
1845 vernichtete die Kraut- und Knollenfäule einen
Großteil der Kartoffelernte. Im folgenden Jahr fiel sie fast
ganz aus, die Bevölkerung verbrauchte zum Überleben das
Saatgut. Die schlechte Ernte 1848 führte endgültig in die
Katastrophe. Schätzungen gehen von 800 000 bis 1 Million
Toten aus, die vor allem an Infektionskrankheiten, weniger
an Hunger, starben. Zudem stieg die Auswanderung an, die
schon vor der Zeit des Great Famine aufgrund der Unter-
drückung durch England Tradition hatte (Smyth 2007).
Die gravierenden wirtschaftlichen Probleme hatten tief
greifende Folgen für die Gesellschaft (Abb. 1) und das gene-
rative Verhalten. Die Realteilung wurde zugunsten des An-
erbenrechts aufgegeben. Die Söhne konnten oft erst in
relativ hohem Alter den Bauernhof von ihrem Vater über-
nehmen. Viele junge Männer wanderten aus, sodass poten-
zielle Ehepartner in Irland fehlten. Das mittlere Heiratsalter
erreichte den höchsten Wert in Europa (Rothenbacher
2002). 1871 waren etwa 20 Prozent der unter 25-jährigen
Frauen verheiratet, 37 Prozent der 45- bis unter 55-jährigen
Frauen ledig. Die Konsequenz des geänderten Heiratsver-
haltens nach der großen Hungersnot war ein deutlicher
Geburtenrückgang. Erst in den 1930er-Jahren nahm die
Fruchtbarkeit wieder zu.
Männer
Alter
Frauen
9
8 85
75
70
6 65
55
4 50
40
3 35
25
20
15
Abb. 1 Altersstruktur der
Bevölkerung Irlands nach
Alter und Geschlecht (1861;
Quelle: verändert nach
Rothenbacher 2002).
10
5
0
%
6
5
4
3
2
1
00
1
2
3
4
5
6
%
Männerüberschuss
Frauenüberschuss
diesen Fortschritten profitierten vor allem Unter-30-
Jährige, weniger jedoch die Säuglinge, die zum Beispiel
wegen mangelhafter Hygiene bei der Milchversorgung
nach wie vor unter einer hohen Mortalität litten (Abb.
6.5). In Schweden erreichte die Lebenserwartung Neu-
geborener schon Mitte des 19. Jahrhunderts 40 Jahre
(Abb. 6.7). Wesentlich für diesen relativ hohen Wert war
die seit 1800 kontinuierlich sinkende Säuglingssterblich-
keit. Entscheidend waren institutionelle Einflüsse. So
forderte schon damals die schwedische Regierung
Frauen auf, „ihre Säuglinge und Kinder lange zu stillen
und intensiv zu pflegen. Männer wurden dazu angehal-
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