Geography Reference
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im Sinne von Malthus die Funktion von preventive
checks .
In West- und Mitteleuropa differierten generative
Verhaltensweisen zwischen Ländern, Regionen, Städten
und ländlichen Gebieten sowie Dörfern. Erklärungs-
ansätze zu regionalen Unterschieden gehen im Allge-
meinen von ökonomischen, sozialen und kulturellen
Bedingungen aus wie zum Beispiel Agrarverfassungen,
Erbrechte, sozialer Stand, Religionszugehörigkeit, Bräu-
che und Wertvorstellungen. In Gebieten mit Anerben-
recht blieben die Nicht-Erbberechtigten oft ledig oder
wanderten ab. Trotzdem war eine Familiengründung für
den zweiten Sohn oft möglich, wenn etwa neue Flächen
urbar gemacht wurden, die Dorfgemeinschaft die All-
mende aufteilte oder der Erstgeborene aufgrund der
hohen Mortalität vor dem Vater verstarb. In Gebieten
mit Realerbteilung hing die Erteilung der Heiratserlaub-
nis von der Größe des geerbten Besitzes ab.
Knodel (1986) ermittelte in seiner Studie zu 14 Dör-
fern in Deutschland, dass das generative Verhalten in
Ostfriesland mit niedriger Geburtenhäufigkeit und
Säuglingssterblichkeit sowie relativ langer Stillzeit deut-
lich von denen in bayerischen Dörfern mit hoher
Fruchtbarkeit und Sterblichkeit bei kurzen Stillzeiten
differierten. Imhof (1981) stellt diese Disparitäten in
einen mentalitätsgeschichtlichen Kontext (Ehmer 2004).
Das „System der Verschwendung“ im Süden basiert auf
den Erfahrungen häufig auftretender Seuchen und
Kriege, während der Norden weitgehend davon ver-
schont blieb und sich ein „System der Mitverantwor-
tung“ für die Nachkommen ausbildete.
Im 18. Jahrhundert setzte sich zunächst das graduelle
Bevölkerungswachstum der vorherigen Jahrzehnte fort.
Doch überwog etwa ab 1750 ein deutlicher Anstieg. Ein
wesentlicher Grund hierfür lag in der Eindämmung der
Krisenmortalität. So trat die Pest in Europa letztmals
1720/22 in Marseille sowie in der Provence auf, breitete
sich jedoch nicht mehr in andere Gebiete des Kontinents
aus. Auch die hohen Getreidepreise der Jahre 1770 bis
1772 infolge nasskalter Witterung und schlechter Ernten
führten nicht zu Subsistenzkrisen mit einem vergleich-
baren Ausmaß wie in vorhergehenden Jahrzehnten. In
Preußen zum Beispiel erwies sich die vorausschauende
Vorratshaltung von Getreide als erfolgreich (Pfister
1994). Zudem wurden Maßnahmen zur öffentlichen
Hygiene verschärft. In Lüneburg wurden Vorschriften
zur Reinhaltung der Straßen erlassen, im Kurfürstentum
Hannover ein System zur Beobachtung der gesundheit-
lichen Situation der Bevölkerung etabliert (ebd.). Diese
Maßnahmen waren im Kern Vorläufer für den Ausbau
materieller, sozialer und institutioneller Gesundheits-
infrastrukturen im 19. Jahrhundert.
Seit den Entdeckungsfahrten der Spanier und Portu-
giesen im 15. und 16. Jahrhundert nahm die europäische
Überseewanderung zu. Der überregionale Handel wur-
de zu einer wichtigen Finanzierungsquelle für die abso-
lutistischen Staaten und schuf Anreize für Eroberer und
Siedler, eine neue bessere Existenz zu finden, oder für
wirtschaftliche Interessengruppen wie Regierungen, sich
Land in Form von Kolonien anzueignen (Schneider
2007). Schätzungen gehen davon aus, dass im 16. Jahr-
hundert 200 000 Spanier und 280 000 Portugiesen nach
Lateinamerika auswanderten (Pietschmann 2007). Emi-
grationen aus West- und Mitteleuropa vor 1800 hatten
ihre Ursachen vor allem in politischer oder religiöser
Verfolgung (z. B. Mennoniten, pilgrim fathers ) und wirt-
schaftlichen Notlagen. In England entzogen die enclosu-
res, die Aufhebung der Allmendrechte in der Landwirt-
schaft und die anschließend private Nutzung der vorher
gemeinschaftlich genutzten Flächen, einem großen Teil
der ländlichen Bevölkerung die Existenzgrundlage
(Schneider 2007). Auf dem Territorium des späteren
Deutschen Reichs führte die Zunahme der Einwohner-
zahl von 16 auf 24,5 Millionen im 18. Jahrhundert zu
Bevölkerungsdruck, der vor allem in den Realerbtei-
lungsgebieten im Südwesten spürbar war. Von dort wan-
derten vor 1800 trotz der Verschärfung der Auswande-
rungsverbote aufgrund merkantilistischer Interessen
der Landesherren 740 000 Menschen nach Ost- und
Südosteuropa und 170 000 nach Nordamerika aus (Bade
& Oltmer 2007). Neben diesen Emigrationen, die auf
einer mehr oder minder freien Entscheidung beruhten,
gab es auch erzwungene Auswanderungen zum Beispiel
in Form des „Soldatenhandels“ (Schneider 2007).
Die Entwicklung der Emigration aus Irland beleuch-
tet den komplexen Zusammenhang zwischen Auswan-
derungsmotiven, persönlichen Merkmalen der Migran-
ten, gesellschaftlichem Kontext auf der Insel und
möglichen Zielländern. Seit dem 16. Jahrhundert riss
England schrittweise die Herrschaft an sich und setzte
seine wirtschaftlichen Interessen in Irland konsequent
durch. Die Aneignung des Grundbesitzes durch Englän-
der sowie die Verdrängung katholischer Iren aus staat-
lichen Führungspositionen waren wesentliche Gründe
für die frühe Migration der Iren auf den europäischen
Kontinent, auf die Westindischen Inseln und an die Ost-
küste Nordamerikas oder als saisonale Arbeitskräfte
nach England und Wales (Smyth 2007). Angehörige der
zweiten oder dritten Generation der protestantischen
Ulster-Schotten, die von den Engländern in Nordirland
angesiedelt worden waren, wanderten aufgrund knap-
per werdenden landwirtschaftlich nutzbaren Neulandes
in die englischen Kolonien in Nordamerika aus. Söhne
wohlhabender katholischer Iren wurden Offiziere in der
Armee von Frankreich und Spanien oder besuchten
Priesterseminare an europäischen Hochschulen. Andere
arbeiteten als Kaufleute oder Angestellte bei irischen
Weinbrandhäusern oder Spirituosengesellschaften. Diese
Vielfalt von Gruppen und Zielen sorgte bereits vor 1800
„[…] für einen ständigen Informationsfluss in das Her-
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