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steuerliche Entlastungen, Zollbefreiung und weitere
finanzielle Vergünstigungen zu. Die Anreize trafen in
Mannheim, am Zusammenfluss von Rhein und Neckar,
auf beste Voraussetzungen für einen prosperierenden
Handel und eine aufstrebende Stadt. Das Experiment
gelang, Vielfalt und Durchmischung ethnischer Struktu-
ren funktionierten, endeten jedoch abrupt mit dem
Pfälzischen Erbfolgekrieg (1688 - 1697).
Nach 1500 verlief die Bevölkerungsentwicklung im
Nordwesten Europas und in Skandinavien überdurch-
schnittlich positiv (Abb. 6.1). Bemerkenswert ist die Ver-
doppelung der Einwohnerzahlen in den Niederlanden
auf etwa 1,9 Million zwischen 1500 und 1650. Mehrere
Faktoren waren für diesen damals außerordentlich posi-
tiven Trend entscheidend (Grigg 1980).
kommensmöglichkeiten. Die Männer arbeiteten vor-
übergehend beim Wal- und Heringsfang, beim Deich-
bau, bei der Ernte, im Handels- und Transportgewerbe
(Bähr et al. 1992). Die „Hollandgängerei“ war eine sai-
sonale Migration, die bereits im 16. Jahrhundert auf-
kam, im 17. Jahrhundert kulminierte und in Deutsch-
land mit dem Aufschwung des Ruhrgebiets an
Bedeutung verlor. Die Zielgebiete der Wanderungen
lagen entlang der gesamten Küste von Calais bis Bremen.
Neben diesem North-Sea-System nach Lucassen (1987)
gab es in ganz Europa weitere Räume in dieser Zeit, die
temporär Ziel von Migranten waren: Bodensee („Schwa-
benkinder“), Po-Ebene, Pariser Becken oder östliches
England.
Die Bevölkerungsentwicklung in Europa verdeutlicht
die limitierende Wirkung des Nahrungsspielraums bzw.
der Tragfähigkeit eines Raumes in präindustrieller Zeit
(Exkurs 6.2). Boten sich Chancen zur Ausweitung der
Nahrungsmittelerzeugung, vermehrten sich die Ein-
kommensquellen außerhalb der Landwirtschaft, oder
waren nach Kriegen Teile der Gemarkungen wüst gefal-
len, nahm die Einwohnerzahl zu, bis sie eine bestimmte
Obergrenze überschritten hatte. Das Bevölkerungs-
wachstum verlangsamte sich zwar, trotzdem kam es
immer wieder zu Krisen, die von Hungersnöten und
Epidemien - oft durch Kriege noch verschärft - beglei-
tet waren und als positive checks im malthusischen Sinne
bewertet werden können.
Im präindustriellen Europa war das Heiratsverhalten
ein Regulativ zur Beeinflussung der Geburtenzahlen und
damit der Bevölkerungsentwicklung. Verbreitet waren
zwei Heiratsmuster. Hohe Heiratshäufigkeit, niedriges
Heiratsalter und überdurchschnittliche Geburtenraten
waren für Gebiete östlich einer Linie St. Petersburg-
Triest, für den Süden der Iberischen Halbinsel, das süd-
liche Italien, Irland und Finnland kennzeichnend (Abb.
6.2 und 6.3; Livi-Bacci 1999). Im übrigen Europa hatte
sich seit der Karolingerzeit ein spezifisches, west- und
mitteleuropäisches Muster mit später Heirat entwickelt,
„dessen konstitutives Merkmal die Bindung der Ehe-
schließung an die Gründung eines eigenen Haushalts
Gewinnung landwirtschaftlicher Nutzflächen: Von
1500 bis 1700 wurde der Nordsee durch umfangreiche
Eindeichungen fruchtbares Marschland abgerungen.
Zusätzlich konnten durch den Einsatz von Windmüh-
len Sümpfe und Seen trockengelegt werden.
Steigerung der Erträge durch innovative Anbautech-
niken: Die Brachzeiten in der Dreifelderwirtschaft
wurden verkürzt, auf den Brachflächen dienten ver-
mehrte Viehhaltung und die Aussaat von Legumino-
sen der Erhaltung der Bodenfruchtbarkeit.
Ausweitung des Handels und beginnende Globali-
sierung: Trotz aller Fortschritte in der Landwirt-
schaft mussten die Niederlande im 15. Jahrhundert
Getreide aus England, Frankreich oder Nordwest-
deutschland, später aus Preußen und dem Baltikum
importieren, um ihren Bedarf an Nahrungsmitteln
decken zu können. 1602 wurde die „Holländische
Ostindien Gesellschaft“, 1621 die „Holländische
Westindien Gesellschaft“ gegründet, die zwar nur
marginal zum Handelsvolumen des Landes beitru-
gen, deren Waren - Gewürze, Tabak, Tee oder Kaffee
- aber enorme Gewinne erzielten. Der Handel stimu-
lierte zum einen die Nachfrage nach landwirtschaft-
lichen Gütern, wie Hopfen, Flachs oder Hanf, die
entweder direkt oder nach ihrer Weiterverarbeitung
exportiert wurden. Zugleich führte eine fortschrei-
tende Spezialisierung, zum Beispiel die Käseherstel-
lung in der Milchwirtschaft, zu komparativen Vortei-
len. Zum anderen versechsfachte sich von 1514 bis
1622 die Einwohnerzahl der Städte, wo 1622 fast die
Hälfte aller Niederländer wohnte, sodass der Absatz
agrarer Produkte zusätzlich gesteigert werden konnte.
Für diese Entwicklung waren entscheidende Voraus-
setzungen verbilligte Warentransporte aufgrund der
zahlreichen Kanäle, die das Land durchzogen, sowie
das Verschwinden der Leibeigenschaft, wodurch das
Gewinnstreben des Einzelnen gestärkt wurde.
Indikatoren
westlich der Linie östlich der Linie
Geburtenrate (in ‰)
< 40
> 40
mittleres Erstheirats-
alter (in Jahren)
Männer
26
24
Frauen
24
22
Anteil (in %) nie ver-
heirateter Personen
> 10
< 5
Abb. 6.2 Demographische Indikatoren für die präindustrielle
Bevölkerungsweise westlich und östlich der Linie St. Peters-
burg-Triest (verändert nach: Livi-Bacci 1999).
Die Prosperität in Holland bot zahlreichen Menschen
aus wirtschaftlich schwachen Nachbarregionen Ein-
 
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