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Exkurs 6.2
Tragfähigkeit
Das Konzept der Tragfähigkeit verknüpft die Einwohnerzahl
eines Raumes mit den dort zur Verfügung stehenden Res-
sourcen unter Einbeziehung des Entwicklungsstandes der
jeweiligen Gesellschaft. Im Fokus steht die Nahrungsmittel-
produktion, die sich im Falle eines Bevölkerungswachstums
erhöhen muss und/oder bei Änderungen im Konsumverhal-
ten zum Beispiel einen steigenden Energiebedarf aufweist.
Aus den Grenzkosten für die zusätzliche Erzeugung eines
Gutes lässt sich folgern, dass in allen Räumen in Abhängig-
keit des Wissensstandes eine obere Grenze der Nahrungs-
mittelproduktion im Sinne der subsistence ceiling von Mal-
thus (Cochet 2004), also eine Tragfähigkeit, existiert.
Ein Überschreiten der Tragfähigkeit bewirkt die Ver-
knappung von Ressourcen, insbesondere von Nahrungsmit-
teln, und dadurch zum Beispiel eine zunehmende Sterblich-
keit als Folge von Hungersnöten, der Ausbreitung von
Krankheiten oder von Armut. Diese positive checks nach
Malthus begrenzen die Einwohnerzahl in einem Raum. Zur
Vermeidung dieser Krisensituation aufgrund der Überbevöl-
kerung schlug Malthus preventive checks, also Geburtenbe-
schränkungen oder die Erhöhung des Heiratsalters, vor.
Von 1340 bis 1400 verringerte sich die Einwohner-
zahl um schätzungsweise 25 Millionen oder um ein
Viertel bis zu einem Drittel der Gesamtbevölkerung
(Bulst 2005). 1347 wurde von der Krim die Pest durch
genuesische Handelsschiffe nach Europa eingeschleppt
(Livi-Bacci 1999) und breitete sich bis 1351 über den
ganzen Kontinent aus. Bis 1400 gingen noch fünf wei-
tere Wellen über Europa hinweg. Die Pest führte zum
Aussterben ganzer Generationen sowie zur Entvölke-
rung von Ortschaften und Landstrichen. Sie betraf alle
Gesellschaften unabhängig von deren Entwicklungs-
stand und Menschen aller sozialen Schichten, jeglichen
Alters oder Gesundheitszustandes, Einwohner von Städ-
ten wie von ländlichen Siedlungen. „Kennzeichen der
epidemiologischen Krisen ist ein steiler Gipfel der Ster-
befälle, während die Tauf- und Heiratsziffern - mit
ansteigender Tendenz - nahe beim Durchschnitt blei-
ben“ (Pfister 1994). Einen kausalen Zusammenhang
zwischen dem Auftreten der Epidemie und den Hun-
gersnöten gibt es zwar nicht, doch die jahrelang ange-
spannte Ernährungslage hatte die Bevölkerung körper-
lich geschwächt und Wohnverhältnisse wie hygienische
Bedingungen verschlechtert, sodass sich die Infektions-
krankheit rasch ausbreiten konnte.
Seit dem 15. Jahrhundert vergrößerten sich die Zeit-
räume zwischen den einzelnen Ausbrüchen der Pest.
Zum einen verlor der Erreger an Virulenz, die Überle-
benden erreichten eine gewisse Immunität. Zum ande-
ren trugen institutionelle Maßnahmen präventiver wie
restriktiver Art dazu bei, die Gefahr eines verheerenden
Ausbruchs der Seuche zu verringern (Livi-Bacci 1999):
das Mergeln oder Kalken von Böden zur Verbesserung
der Bodenfruchtbarkeit erst in Ansätzen verbreitet und
neue Kulturpflanzen, wie die Kartoffel, wurden erst im
16. Jahrhundert eingeführt.
Ende des 13. Jahrhunderts erschöpfte sich die Nut-
zung neuer Flächen für die Expansion des Getreidean-
baus, die Nahrungsmittelproduktion stieg nur noch
wenig, die Versorgungslage der weiter wachsenden Be-
völkerung wurde zunehmend besorgniserregend. Meh-
rere Indikatoren signalisierten ein Überschreiten der
Tragfähigkeit (Exkurs 6.2; Grigg 1980): So sanken die
durchschnittlichen Erträge pro Flächeneinheit, da schon
im 11. Jahrhundert die fruchtbarsten und leicht zu bear-
beitenden Böden kultiviert worden waren. Viele bäuerli-
che Stellen waren aufgrund wiederholter Erbteilungen
zu klein, um eine Familie ernähren zu können. Europa-
weit erhöhten sich Nahrungsmittel- und Bodenpreise
(Livi-Bacci 1999).
Die Ernährungssituation der Bevölkerung spitzte sich
zu. Zu Beginn des 14. Jahrhunderts verschlechterten
sich die klimatischen Verhältnisse, der Handel wurde
beeinträchtigt, Ernten fielen aus. Ab 1315 kam es wie-
derholt zu schweren Hungersnöten, sodass zum Beispiel
in Florenz die Kommune Nahrungsmittel, wie Getreide
und Mehl, aufkaufte und sie zu „politischen Preisen“ an
die Einwohner abgab, „um die Raserei des Volkes und
der armen Leute zu befriedigen, sodass wenigstens ein
jeder Brot zum Leben haben konnte“ (Montanari 1993).
Solche Subsistenzkrisen schwächten den Gesundheits-
zustand der Menschen. Die Sterblichkeit stieg, die Zahl
der Eheschließungen und Taufen verringerte sich (Pfis-
ter 1994) - die Bevölkerungsentwicklung stagnierte oder
war sogar negativ.
die Schaffung von Organisationen, um den körper-
lichen Zustand der Bevölkerung zu beobachten
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