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der europäischen Bevölkerungsentwicklung und -verteilung
wesentlich ist, sie aus dem komplexen Zusammenwirken
von politischen, ökonomischen und sozialen Prozessen her-
aus zu erklären.
Für die in Abbildung 1 dargestellte Bevölkerungsent-
wicklung in Europa ergeben sich aus dieser kurzen Über-
sicht eine Reihe von Fragen (Livi-Bacci 1991): Warum kam
es vor 1800 immer wieder zu durchaus kurzfristigen Ände-
rungen zwischen Wachstum, Stagnation und Rückgang?
Welche Faktoren beeinflussten dieses Auf und Ab? Gab es
unterschiedliche demographische Entwicklungen in den
europäischen Ländern und Regionen? Warum beschleu-
nigte sich in Europa das Wachstum früher als auf anderen
Kontinenten, und welche Gründe sind für die sinkende Zu-
nahme entscheidend? Welche gesellschaftlichen Verände-
rungen gehen mit den drei Phasen der Bevölkerungsent-
wicklung einher? Ein besonderer Blick wird dabei auf den
Themenkomplex Migration gelegt: Inwiefern sind Wande-
rungsbewegungen ein konstitutiver Teil der Bevölkerungs-
entwicklung Europas? Welche Bedeutung haben politische,
ökonomische und soziale Einflussfaktoren? Welche Geo-
graphien der Migration kennzeichnen und verändern die
europäische Entwicklung?
Jahr
Europa
Asien
andere Kontinente
0
17,1
67,5
15,4
1000
17,0
60,1
22,9
1200
17,0
61,6
22,4
1340
20,4
53,8
25,8
1400
17,3
53,6
29,1
1500
18,2
53,1
28,6
1600
19,2
58,5
22,3
1700
18,4
63,7
17,9
1750
18,9
64,9
16,2
1800
20,4
66,1
13,4
1850
23,2
63,7
13,1
1900
25,8
55,3
18,9
1950
21,6
55,5
22,9
2010
10,6
60,3
29,1
Abb. 2 Anteil Europas, Asiens und der anderen Kontinente an
der Weltbevölkerung in den Jahren 0-2010 (verändert nach:
Livi-Bacci 1991, UN 2009).
formationsflüsse beschleunigen, die Bedeutung von Netz-
werken für die Migrationsentscheidung intensivieren und
Distanzüberwindung erleichtern, und in der Migrationspoli-
tik zum Beispiel der EU-Staaten. Nicht zuletzt der in der
zunehmenden Vielfalt der Wohnbevölkerung (bezogen auf
Herkunft, demographische, soziale und ethnische Merk-
male) zum Ausdruck kommende Einfluss von räumlichen
Bewegungen macht deutlich, dass es für das Verständnis
Bevölkerungsdynamik und
demographische Systeme
bis heute
Industriegesellschaft in ihren Wirkungen auf das
demographische System ab, dessen Komponenten sich
in ihren Ausprägungen - wie bezüglich der Zahl der
Geburten je Frau oder der Lebenserwartung Neugebo-
rener - erheblich veränderten. Zeitgleich lösten sich die
Menschen allmählich von sozialen Autoritäten wie
Eltern, Kirche oder Staat. Emanzipation und Auto-
nomie, Selbstverwirklichung und Individualisierung
gewannen mit dem Übergang zur postindustriellen Ge-
sellschaft vermehrt an Bedeutung. Diesen Zusam-
menhängen zwischen gesellschaftlichen Veränderungen
und demographischem System geht der folgende Ab-
schnitt am Beispiel der natürlichen Komponente der
Bevölkerungsentwicklung, der Differenz aus Geburten
und Sterbefällen, nach.
Die drei Phasen der Bevölkerungsentwicklung in
Europa seit der Zeitenwende korrespondieren mit spe-
zifischen gesellschaftlichen Verhältnissen. Diese wiede-
rum stehen mit charakteristischen Ausprägungen
demographischer Systeme - bestehend aus den Ele-
menten Heiratsverhalten, Fruchtbarkeit oder Geburten-
häufigkeit, Sterblichkeit oder Mortalität, Mobilität und
Migration - in Beziehung. Entscheidende Antriebskraft
für den politischen, sozialen, ökonomischen und
demographischen Wandel ist die Erweiterung des Wis-
sensstandes. Neue Erkenntnisse und Innovationen
eröffneten Chancen, zum Beispiel den Handel auszu-
weiten, die landwirtschaftliche Produktivität zu stei-
gern, neue Energiequellen zu gewinnen oder präventive
Maßnahmen im Gesundheitswesen einzuführen. Die
bis in das 19. Jahrhundert stark konditionierenden
externen Faktoren - „[…] Raum und Verfügbarkeit von
Land, Produktion von Nahrungsmitteln und Nah-
rungsspielraum sowie die Epidemiologie […]“ - (Livi-
Bacci 1999) schwächten sich mit dem Wandel zur
Überfluss, Krisen, Tragfähigkeit -
Bevölkerungsentwicklung bis 1800
Die Stagnation der Einwohnerzahl Europas im ersten
Jahrtausend verdeckt erhebliche Schwankungen nach
Zeit und Raum (Exkurs 6.1). So führte der Zusammen-
bruch des Römischen Reichs im 5. Jahrhundert zu
einem politischen Machtvakuum und anhaltenden krie-
gerischen Auseinandersetzungen, in deren Verlauf der
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