Geography Reference
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Kapitel 6
Bevölkerungsdynamik
und Migration
Paul Gans, Christine Lang und Andreas Pott
Vor 2000 Jahren lebten gut 40 Millionen Menschen in Europa zwischen Atlantik und
Ural, 1000 Jahre später waren es etwa genauso viele, und nochmals 1000 Jahre später
zählte die Bevölkerung nach Angaben der Vereinten Nationen 727 Millionen. Für diese
Entwicklung sind drei Phasen mit unterschiedlicher Länge und jeweils differierender
Dynamik von Geburtenhäufigkeit und Sterblichkeit sowie Intensität und Diversität von
Migrationen charakteristisch (Abb. 1).
Bis etwa 1800 war - ähnlich wie in den anderen Großräumen der Erde - ein Wechsel
von Zunahme, Stagnation oder Schrumpfung bei insgesamt positivem Trend prägend.
Bestimmend für dieses Auf und Ab waren in Europa wiederholte, zum Teil abrupte, regio-
nal wie zeitlich differenzierte Übergänge zwischen Geburten- und Sterbeüberschüssen
bei insgesamt geringer Bedeutung räumlicher Bevölkerungsbewegungen. Positive Trends
basierten auf der Erweiterung bestehender landwirtschaftlicher Nutzflächen (z. B. auf
Kosten der Allmende) oder auf der Erschließung neuer Siedlungsräume, etwa durch das
Roden von Waldgebieten, und damit auf der Ausdehnung der Ökumene, nicht zuletzt
auch wegen verbesserter klimatischer Bedingungen. Zugleich erhöhten Innovationen in
der Landwirtschaft wie die Einführung der Dreifelderwirtschaft die agrare Tragfähigkeit,
und die Entwicklung neuer Techniken erlaubte die Kolonisation von Sümpfen, Mooren
oder Flussniederungen. Auslöser für die im Ausmaß durchaus beträchtlichen regionalen,
zum Teil auch großräumigen Bevölkerungsrückgänge waren in der Regel sich wechsel-
seitig verstärkende Faktoren wie das Überschreiten der Tragfähigkeit eines Raumes,
bedingt durch Klimaverschlechterungen oder auch durch anhaltendes Bevölkerungs-
wachstum bei fehlenden Fortschritten in der Landwirtschaft, wiederholt auftretende
Hungersnöte mit der Folge, dass Epidemien die physisch geschwächte Bevölkerung här-
ter trafen, und häufige, zum Teil lang dauernde Kriege. Die in der Folge oftmals fast men-
schenleeren Räume wurden durch eine aktive Peuplierungspolitik der Herrschenden
wieder aufgesiedelt. Dahinter standen politische Interessen wie Grenzsicherung des
eigenen Staatsgebietes, aber auch wirtschaftliche Ziele wie die Erhöhung der Staats-
einnahmen oder die Förderung von Handel.
In der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts begann eine neue Phase. Die Einwohner-
zahl erhöhte sich kontinuierlich und die jährliche Wachstumsrate übertraf nach 1800 die
jeweiligen Ziffern für Asien und die übrigen Kontinente, sodass sich bis 1900 der Anteil
an der Weltbevölkerung, der auf Europa entfiel, auf ein Viertel steigerte (Abb. 2). Die
überdurchschnittliche Bevölkerungszunahme in dieser Phase hatte ihre Ursachen in
Änderungen des generativen Verhaltens als Folge eines gesellschaftlichen Wandels, der
sich im Zusammenhang mit der Industrialisierung und Urbanisierung vollzog. Die Schaf-
fung industrieller Arbeitsplätze konzentrierte sich im Wesentlichen auf die vorhandenen
Städte, die in zunehmendem Maße überschüssige Arbeitskräfte aus den ländlichen
Gebieten attrahierten und die Bedeutung traditionsreicher agrarisch geprägter Arbeits-
wanderungssysteme immer mehr zurückdrängten (Oltmer 2010). Zudem änderten sich
die internationalen Migrationsverhältnisse. Noch Anfang des 19. Jahrhunderts lagen bei
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