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überdurchschnittlich viele Beschäftigte in der Landwirt-
schaft und im übrigen Primärsektor tätig (Eurostat
2009, INKAR 2009).
Doch Tertiärisierung ist nicht der einzige festzustel-
lende Prozess. Die EU-Erweiterung und die internatio-
nale Arbeitsmobilität haben die Arbeitsmärkte in den
älteren EU-Mitgliedsstaaten tief greifend verändert.
Hinzu kommen noch weitere spürbare Prozesse auf den
Arbeitsmärkten, die als säkulare Trends auftreten. Sie
sind Resultate organisationaler Veränderungen in und
zwischen Unternehmen sowie auch Folgen politischer
Deregulierung. Zwar ist der Umbruch im Einzelfall
nicht so klar, wie im Folgenden idealtypisch skizziert.
Doch können folgende Linien des Wandels identifiziert
werden, die sich vor allem mit dem Übergang vom For-
dismus zum Postfordismus und - verbunden damit -
mit Globalisierung von Produktion und Arbeit, Flexibi-
lisierung und Deregulierung beschreiben lassen.
Nach dem Zweiten Weltkrieg hat sich im Kontext des
Fordismus in großen Teilen des marktwirtschaftlich
orientierten westlichen und nördlichen Europas die
Norm des Normalarbeitstages, der als Vollzeitbeschäfti-
gung in eine Fünf-Tage-Woche eingebettet war, und die
Erwerbsbiographie von der Ausbildung bis zum Ruhe-
stand, oftmals in derselben Firma, herausgebildet. Die
Arbeitstätigkeiten erfolgten in großen, integrierten Un-
ternehmen mit einer straffen top-down- Organisation
und direkter Kontrolle über kleinteilig-repetitive, wenig
qualifizierte Tätigkeiten auf der ausführenden Ebene.
Charles Chaplin, der in dem Film „Moderne Zeiten“
zwischen die Räder der Maschinerie fordistisch-tayloris-
tischer Industrieproduktion geriet, steht als Sinnbild
dieser Fabrikorganisation. Demgegenüber zeichnet sich
etwa seit den 1980er-Jahren als Postfordismus ab, dass
vermehrt kleine, dezentrale Einheiten entstanden sind,
sei es als Auslagerung von Produktion, sei es als Aus-
gründung von Betriebsteilen, sei es als Abbau von Hier-
archie in den großen Unternehmen selbst. Verbunden
war dies mit einer Globalisierung von Standorten sowie
von Absatz- und Beschaffungsmärkten ( global sourcing ).
Tendenziell werden in den Kernökonomien vermehrt
Arbeitskräfte eingesetzt, die selbstständig arbeiten, hoch
qualifiziert sind, teamorientiert denken, in Gruppen
arbeiten, und die in oftmals nur befristeten Arbeitsver-
trägen tätig sind. Dies ist auch ein Ausdruck des Wandels
der Kernökonomien zu sogenannten Wissensgesell-
schaften, in denen sich die Arbeit zunehmend interak-
tiv-kollaborativ erweist, vielfach auf informell verhan-
deltem Sozialkapital beruht sowie sich zunehmend
mobil und virtuell gestaltet (Ibert & Thiel 2009). Aller-
dings zeigen sich auch Trends gegenläufiger neofordisti-
scher Zentralisierung, Kontrolle und Aufgabenzerlegung
sowohl im Produktions- als auch im Dienstleistungs-
bereich, besonders im Kontext der internationalen
Arbeits- und Kompetenzaufteilung, die für eine diffe-
renzierte industrielle Transition sprechen. Diese ist ver-
bunden mit einer zunehmend finanzdominierten Glo-
balisierung und steigender Konkurrenz zwischen den
Lohnabhängigen (Zeller 2008).
Die postfordistischen Trends sind nur teilweise auch
in den 2004 und 2007 beigetretenen mittel- und osteu-
ropäischen Ländern anzutreffen. Zunächst einmal ist
vorwegzuschicken, dass die Arbeitsverhältnisse dort ins-
gesamt flexibler als in den älteren Mitgliedsländern sind.
Betrachtet man die organisationsinternen Prozesse in
den Unternehmen, so zeigt sich ein differenziertes Bild:
Zum Teil gibt es Tochtergesellschaften multinationaler
Unternehmen, die als „verlängerte Werkbänke“ operie-
ren, nur wenig qualifizierte Arbeitskräfte benötigen und
somit ein eher fordistisch-tayloristisches Produktions-
konzept aufweisen. Diese Betriebe entsprechen etwa der
Vorstellung eines peripheren Fordismus, der die niedrig
qualifizierten, gering bezahlten Arbeiten in die Periphe-
rien der Weltökonomie verlagert, während die Kern-
ökonomien den Wandel zu besseren Arbeitsbedingun-
gen durchlaufen. Doch die Situation erweist sich als
vielschichtiger. Viele internationale Unternehmen benö-
tigen Fachkräfte, implementieren postfordistische Ar-
beitselemente, wie Gruppenarbeit, und bauen schritt-
weise zumindest im begrenzten Maße Kompetenzen
und qualifizierte Arbeitsplätze auf. Konzerntöchter in
Mittel- und Osteuropa bewerben sich um neue Projekte
auf gleicher Ebene wie die westeuropäischen Betriebe,
da das zentrale Management sie in übergreifende euro-
päische Strategien und Unternehmensnetze einbindet.
Insofern vermischen sich in Mittel- und Osteuropa Ele-
mente fordistisch-tayloristischer mit postfordistischer
und neofordistischer Produktionsorganisation - ähn-
lich, wie wir es in Unternehmen der westlichen Kern-
ökonomien antreffen (Fuchs & Winter 2008).
Der allgemeine unternehmerische Trend zur Flexibi-
lisierung wurde in Deutschland und anderen EU-Mit-
gliedsländern unterstützt durch die politische Deregu-
lierung der Arbeitsmärkte. So führten die Regierungen
in Deutschland unabhängig von ihrer Parteizugehörig-
keit zunächst in den 1980er-Jahren, dann Ende der
1990er-Jahre arbeitsmarktpolitische Instrumente ein,
die erheblich zur Flexibilisierung des Arbeitsmarktes
beitrugen. Damit breiteten sich prekäre Arbeitsverhält-
nisse auch in Deutschland aus: Zeitarbeiter bzw. Leih-
arbeiter (Herr 2009, Exkurs 5.17) sowie der Niedrig-
lohnsektor. Gleichzeitig wirkten sich institutionelle
Regelungen in Deutschland, wie Kurzarbeit und Ar-
beitszeitkonten, für die Stammbelegschaften positiv
gerade in der Wirtschaftskrise 2008/2009 aus, sodass
trotz der immensen Auftragseinbrüche der deutsche
Arbeitsmarkt überraschend verhalten auf die Krise rea-
gierte (Möller 2010).
Im Westen Deutschlands arbeitet mehr als jeder
fünfte Beschäftigte im Niedriglohnsektor, das heißt für
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