Geography Reference
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Exkurs 5.13
Die Geographie der Kultur- und Kreativwirtschaft
in Europa
Ivo Mossig
Im Jahr 2000 wurde die Lissabon-Strategie mit der Zielvor-
gabe verabschiedet, dass die Europäische Union bis zum
Jahr 2010 zur wettbewerbsfähigsten und dynamischsten
wissensbasierten Wirtschaftsregion weltweit aufsteigen
soll. Dass zum Erreichen dieser ambitionierten Zielsetzung
auch die Kultur- und Kreativwirtschaft eine wichtige Rolle
spielen kann, wurde zunächst ignoriert. Einige Jahre später
wurde die Bedeutung demgegenüber ausgesprochen inten-
siv thematisiert, wie eine im Oktober 2006 vorgelegte Stu-
die im Auftrag der Europäischen Kommission dokumentiert
(European Commission 2006).
Vonseiten der EU werden als kultureller Sektor solche
Wirtschaftszweige betrachtet, die zum einen nichtreprodu-
zierbare Güter und Dienstleistungen herstellen, die von
dem Konsumenten direkt vor Ort ( on the spot ) konsumiert
werden (z. B. ein Konzert, eine Kunstausstellung oder eine
Aufführung). Dazu zählt der gesamte Kunstbereich ein-
schließlich der Museen, archäologischen Stätten, Bibliothe-
ken oder Kunst- und Antikmärkte. Daneben existiert zum
zweiten der sogenannte industrielle Bereich der Kulturwirt-
schaft, in dem die hergestellten kulturellen Produkte in gro-
ßen Stückzahlen reproduziert sowie massenhaft verbreitet
und exportiert werden. Beispiele für solche kulturellen In-
dustriezweige sind die Film- und Videobranche, der Rund-
funk, das Druck- und Verlagsgewerbe, die Musik- oder die
Videospielindustrie. Der kreative Sektor wird dadurch defi-
niert, dass ein kreativer Input als zentraler Bestandteil in
die Produktion von Gütern einfließt, die selbst keine Kultur-
güter darstellen. Beispielbranchen sind die Bereiche des
Designs, der Architektur oder der Werbung.
Dieser Abgrenzung zufolge hat die Kultur- und Kreativ-
wirtschaft bereits im Jahr 2003 einen Umsatz von 654 Milli-
arden Euro erzielt und mit 2,6 Prozent zum Bruttoinlands-
produkt der Europäischen Union beigetragen. Insgesamt
5,8 Millionen Menschen arbeiteten 2003 innerhalb der EU
in diesem Sektor. Das entspricht einem Anteil von 3,1 Pro-
zent an der Gesamtbeschäftigung. Sowohl bezüglich der er-
zielten Umsätze als auch bei der Beschäftigung wurden
überdurchschnittliche Zuwachsraten festgestellt (European
Commission 2006).
Doch nicht nur die reinen Wachstums- und Beschäfti-
gungseffekte begründen das enorme Interesse an der Kul-
tur- und Kreativwirtschaft als Wirtschaftszweig. Kreativität,
aber auch Kunst und Kultur werden derzeit als wichtige Fak-
toren bei Innovationsprozessen in wissensbasierten Ökono-
mien herausgestellt (Mossig 2009, Sailer & Papenheim
2007). Auch wenn es Schnittmengen und sehr ähnliche
Argumentationslinien im Hinblick auf die Wirkungszusam-
menhänge gibt, so ist die Kultur- und Kreativwirtschaft nach
obiger Abgrenzung nicht mit der „Kreativen Klasse“ (Florida
2002) zu verwechseln, die wesentlich umfangreicher defi-
niert wird. Im Gegensatz zur branchenbezogenen Abgren-
zung der Kultur- und Kreativwirtschaft erfolgt die Definition
der Kreativen Klasse berufsbezogen anhand bestimmter
Tätigkeiten. Zur Kreativen Klasse gehören demnach bei-
spielsweise auch Naturwissenschaftler, Mathematiker, Me-
diziner, Sozialwissenschaftler, Hochschullehrer, Lehrer, Ju-
risten, Technische Fachkräfte, sozialpflegerische Berufe
oder leitende Verwaltungsbedienstete. Nach Boschma &
Fritsch (2009) zählen in den sieben europäischen Ländern
Dänemark, Deutschland, England und Wales, Finnland, Nor-
wegen und Schweden insgesamt 37,7 Prozent der Arbeits-
kräfte zur Kreativen Klassen im Sinne von Florida (2002).
Empirische Studien zur räumlichen Verteilung der Kul-
tur- und Kreativwirtschaft zeigen die hohe Konzentration
der Branche in den größten urbanen Zentren der jeweiligen
Länder, zum Beispiel für die Skandinavischen Länder
(Power 2003), für Italien und Spanien (Lazzeretti et al.
2008) oder für Deutschland (Mossig 2011). Als Ursache für
die Konzentrationsprozesse in den urbanen Ballungszen-
tren wurde zuletzt vor allem die Bedeutung sogenannter
urban amenities herausgestellt (Storper & Scott 2009, Mos-
sig 2011, Sailer & Papenheim 2007). Damit sind Qualitäten
einer Stadt gemeint, die in ihrer Gesamtwirkung das Image
bzw. die Ausstrahlung, Atmosphäre und Urbanität einer
Stadt oder eines städtischen Quartiers bestimmen. Diese
fungieren als wichtige Attraktoren auf kreative Personen,
für die ein vielfältiges, anregendes sowie offenes und tole-
rantes Umfeld eine Quelle der Inspiration darstellt. Zudem
wird davon ausgegangen, dass kreative Personen gerne an
einem Standort arbeiten möchten, an dem sie aufgrund der
besonderen Lebensqualität einiger Städte auch gerne leben
wollen. Die Bedeutung von solchen weichen Faktoren ist
zunehmend in das Bewusstsein städtischer Akteure ge-
rückt, und es werden verstärkte Bemühungen unternom-
men, am eigenen Standort urban amenities zu generieren.
Storper & Scott (2009) weisen jedoch darauf hin, dass
urban amenities lediglich ein partieller Erklärungsgehalt bei-
zumessen ist. Die konkreten Produktionssysteme und Be-
schäftigungsmöglichkeiten vor Ort, die das Resultat von
teilweise weit zurückreichenden Pfadabhängigkeiten sind,
müssten ebenfalls berücksichtigt werden. Eine Politik, die
entsprechende Annehmlichkeiten schafft, ohne dass zu-
gleich adäquate Jobmöglichkeiten in den realen Produk-
Fortsetzung
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