Geography Reference
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tungsräumen sind sie zwar deutlich weniger stark diver-
sifiziert, aber nicht unbedingt weniger erfolgreich. Auch
in ländlichen Räumen bilden sich Agglomerationsvor-
teile aus. Anstoß dazu gibt in der Regel eine einzelne
Branche, die sich an einem Ort räumlich konzentriert.
Die konzentrierte Branche zieht die Ansiedlung spezia-
lisierter Zulieferer nach sich, da sie diesen Aufträge und
Skalenerträge durch die Diversifikation der Kunden gar-
antiert. Entscheidend aber für die Wirksamkeit von
Externalitäten in Branchenkonzentrationen ist die Zir-
kulation spezifischen Wissens. Dieses Wissen steckt ein-
erseits in den Zulieferbeziehungen und wird in auftrags-
bezogener Interaktion generiert. Andererseits wird es
durch einen spezialisierten Arbeitsmarkt begründet, der
sich mit der Konzentration einer Branche an einem
Standort herausbildet. Wissens- spill-over ist das Ergeb-
nis der Fluktuation und Migration von Mitarbeitern in
und zwischen den Unternehmen. Ländliche Regionen,
in denen sich praktisches Wissen bestimmter Branchen
hochgradig konzentriert, finden sich überall in Europa:
Bekannte Beispiele sind die Herstellung von Glas und
Glaswaren in der polnischen Woiwodschaft Heiligkreuz,
die deutsche Schuhindustrie in der Südwestpfalz, die
Nahrungs- und Genussmittelindustrie in der Bretagne/
Frankreich, die Keramik und Fliesenindustrie bei Valen-
cia/Spanien oder die Kork verarbeitende Industrie der
Algarve/Portugal.
Am besten erforscht sind ohne Zweifel die Agglome-
rationsvorteile in den Industriedistrikten Italiens. Die in
Kleinstädten der Toskana oder der Emilia Romagna
beobachtete Flexibilität kleiner und mittlerer Unterneh-
men, die spezialisiert auf einzelne Arbeitsschritte in
arbeitsteiliger Vernetzung Konsumgüter wie Textilien,
Schuhe oder Spielwaren herstellen, geht auf regional zir-
kulierendes Wissen des Erfindens und Aufgreifens
modischer Trends und auf praktisches Wissen ihrer effi-
zienten Umsetzung im Produktionsprozess zurück. Ge-
teilte soziale Normen, Verwandtschafts- und Nachbar-
schaftsbeziehungen sowie eine effiziente Sanktionierung
in Netzwerken stärken das gegenseitige Vertrauen der
Wirtschaftsakteure im Industriedistrikt und erleichtern
kollektive Lernprozesse.
Natürliche Standortfaktoren und Agglomerations-
vorteile liefern wichtige Erklärungen der Herausbildung
der europäischen Wirtschaftsregionen. Wobei Agglo-
merationsvorteile heute aufgrund der zunehmenden
Bedeutung des Produktionsfaktors Wissen einen mess-
bar stärkeren Erklärungsbeitrag leisten (Roos 2005) als
noch zu Zeiten der Industriellen Revolution oder in
der Phase der fordistischen Massenproduktion. Zugleich
beschränken Agglomerationsvorteile die Freiheiten der
Standortwahl junger Branchen. Haben sich erst einmal
Wachstumsregionen einer neuen Branche herausgebil-
det, wird es für Unternehmensgründungen zunehmend
nötig, sich in ihrer Nähe niederzulassen oder sich zu-
mindest mit ihnen zu vernetzen. Sonst gingen sie das
kostspielige Risiko ein, auf wichtige wissensbasierte Vor-
teile der räumlichen Konzentration zu verzichten bzw.
sie anderweitig kompensieren zu müssen. Geographi-
sche Agglomerationsvorteile lassen sich jedoch nicht
endlos mehren, sondern können auch negative Effekte
hervorrufen, die im Extremfall den Niedergang speziali-
sierter Wirtschaftsregionen einleiten. Vorherrschende
Besitzstrukturen, Altbestände der Gebäude oder tra-
dierte Nutzungen und Beziehungen behindern die wirt-
schaftliche Dynamik und die Ansiedlung neuer Unter-
nehmen.
Wachstums- und Schrumpfungsprozesse
der europäischen Regionen
Europäische Wirtschaftsregionen lassen sich auch hin-
sichtlich ihrer Entwicklungsdynamik unterscheiden und
als Wachstums- oder Schrumpfungsregionen beschrei-
ben. Bei der Interpretation der räumlichen Verteilung
dieser Regionstypen sind jedoch die Wahl des Vergleichs-
indikators sowie der Betrachtungszeitraum entschei-
dend. Die Abbildung 5.29 verdeutlicht hierzu die Verän-
derungen des regionalen BIP pro Einwohner in Europa
zwischen 2000 und 2008 und bezieht sich dabei auf den
EU-Durchschnitt. Auffällig ist eine deutliche Tendenz
zur Konvergenz der regionalen Wirtschaftskraft. Zwar
sind Regionen wie Ost- und Mittelosteuropa oder Süd-
spanien noch immer als strukturschwach zu bezeichnen
(Einleitung, Abb. 1), ebenso deutlich ist aber auch das
überdurchschnittliche Wirtschaftswachstum in diesen
Regionen zu erkennen. Süditalien und Portugal zeich-
nen sich dagegen als strukturschwache Regionen mit
einem unterdurchschnittlichen Wirtschaftswachstum aus.
In dreierlei Hinsicht lohnt ein detaillierter Blick auf
die Wachstumsdynamik der genannten Wirtschafts-
regionen. Zum einen ist das überdurchschnittliche
Wirtschaftswachstum pro Einwohner in Osteuropa
nicht direkt mit dem Wachstum in Spanien zu verglei-
chen, da es von einem deutlich niedrigeren Niveau des
BIP ausgeht. Während das Wachstum in Osteuropa
außerdem von mehreren Wirtschaftszweigen gemein-
sam getragen wurde, ging es in Spanien fast ausschließ-
lich auf einen Boom der Bauwirtschaft zurück. Im Jahr
2007 vereinte dieser Sektor knapp 20 Prozent des spani-
schen BIP auf sich (EU-Durchschnitt: 11,2 Prozent).
Zum anderen lässt die dargestellte Entwicklung keine
Aussagen über die Nachhaltigkeit des Wirtschaftswachs-
tums zu. Gerade die globale Wirtschafts- und Finanz-
krise der Jahre 2007 bis 2009, deren Wirkungen in der
Abbildung noch nicht enthalten sind, hat gezeigt, wie
schnell Wachstum des regionalen BIP in Stagnation und
Schrumpfung umschlagen kann. In Spanien, wo die
Krise deutlich länger wirkte und deutlich stärkere Spu-
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