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Exkurs 5.5
Welche Standortfaktoren prägten die
ersten Industrialisierungen in Europa?
Michael Handke
In der Stadtregion Manchester, deren Umland in die Süd-
westausläufer der Penninen eingebunden ist, wurden be-
reits lange vor der Erfindung der ersten Dampfmaschine
Baumwollspinnereien mit Wasserkraft betrieben. Die Nähe
zur Hafenstadt Liverpool erleichterte den überregionalen
Absatz der Textilwaren. Bereits ab den 1760er-Jahren senk-
ten Kanäle als künstliche Wasserstraßen die Kosten des
Gütertransports. Aber auch Rohstoffe wie Kohle, die in gro-
ßen Mengen zur Befeuerung der sich durchsetzenden
Dampfmaschinen benötigt wurde, konnten so nach Man-
chester gelangen. Der Einsatz der Dampfmaschinen ge-
währleistete gleichmäßige und präzise Arbeitsschritte.
Zusammen mit einer rigide organisierten Disziplin der
Fabrikarbeiter, steigerten die Unternehmen ihre Effizienz.
Das Produktionssystem der Baumwoll- und Textilindustrie
in Nordengland erarbeitete sich komparative Kostenvor-
teile. Die Unternehmen der Region waren in der Lage, ihre
Güter zu geringeren Opportunitätskosten zu produzieren als
ihre Wettbewerber in Kontinentaleuropa. Großräumige Wirt-
schaftsregionen wie zum Beispiel Nationalstaaten oder die
im Deutschen Zollverein 1834 vereinten deutschen Bundes-
staaten reagierten mit Zöllen zum Schutz der heimischen
Wirtschaft. Dass sie dadurch die Durchsetzung technologi-
scher Entwicklungen im eigenen Territorium verlangsamten
und zugleich den Vorsprung der englischen Industrie
zementierten, hatten sie dabei nicht bedacht. In Flandern
hingegen ist ein früher industrieller Aufholprozess auf ein
besonderes institutionelles Umfeld zurückzuführen. Das in
der Region seit dem 13. Jahrhundert konzentrierte Textil-
und Tuchgewerbe zeigte sich weit weniger verschlossen
gegenüber technologischen Neuerungen. Es war früh mit
den Produktions- und Absatzmärkten im Süden Englands
verflochten. Auch die Nähe zu den Kohlevorkommen der
südlichen Nachbarregion Wallonie ermöglichte bereits ab
1900 die Nachahmung der Erfolgsgeschichte aus Man-
chester. Noch heute weist Flandern mit 5,5 Prozent der
regionalen Beschäftigten den höchsten Spezialisierungs-
grad im textilproduzierenden und -verarbeitenden Gewerbe
in Europa auf (Eurostat 2010a).
Die nachholende Industrielle Revolution in Deutschland
gründete dagegen auf dem zunehmenden Bedarf der Wirt-
schaft an Eisen und Maschinen. Im Ruhrgebiet waren natür-
liche Rohstoffvorkommen und Verkehrsbedingungen, in
Sachsen eine Tradition im Textilmaschinenbau und später
im Werkzeugmaschinenbau ausschlaggebend für regionale
Wirtschaftserfolge. Während in England Maschinen zu-
meist noch auf Basis empirischer Erfahrungen konstruiert
wurden, profitierte der Maschinenbau in Deutschland von
wissenschaftlich fundierten technischen Ideen und Berech-
nungen, die in spezialisierten Bildungseinrichtungen entwi-
ckelt und geprüft wurden. Zur selben Zeit trieb der wach-
sende Transportbedarf der Wirtschaft den Ausbau des
Schienennetzes voran. Eine steigende Nachfrage nach
Eisen und Werkzeugen erlaubte es den beiden deutschen
Regionen, ihre führende Position auszubauen. Mit dem Er-
folg der Unternehmen wuchsen die Regionen zu wirtschaft-
lichen Agglomerationen heran. Die Kaufkraft der Haushalte
wuchs, und mit ihr stieg die regionale Nachfrage nach Kon-
sumgütern. Mit dem Anschluss anderer Regionen an das
Eisenbahnnetz der frühen Industriegebiete wurden neue
regionale Entwicklungsimpulse gesetzt.
Stahlindustrie. Das benötigte Heer an Bergleuten trug
zum Wachstum industriebestimmter Verdichtungs-
räume bei - in England, aber auch vor allem in der bel-
gischen Wallonie, im deutschen Ruhrgebiet oder im
oberschlesischen Industrierevier.
Im Zuge der industriellen Entwicklung haben sich
die großräumigen Standorte der Kohleförderung verla-
gert. Während in China der Kohlebedarf in den letzten
Jahrzehnten drastisch stieg, Australien seine Exportka-
pazitäten ausbaute und die USA ein wichtiger Kohleex-
porteur blieben, ging die Kohleförderung in Europa
stark zurück, in Großbritannien von einem Höchststand
von 280 Millionen Tonnen jährlich auf heute nur noch
rund 25 Millionen Tonnen. Die Förderung in Deutsch-
land reduzierte sich von 1957 bis 2003 um 42 Prozent,
bedingt durch den fast völligen Verlust des Wärme-
marktes (Kohleheizung), aber auch den zurückgehen-
den Bedarf in der Stahlindustrie und die zunehmende
Substitution der einheimischen Kohle durch Importe
(Abb. 5.23 und 5.24).
Die Eisen- und Stahlindustrie war neben der Textil-
industrie und dem Bergbau einer der ersten Wirt-
schaftszweige, in der technologische Innovationen zur
industriellen Fertigung führten. Frühe Standorte in Eu-
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