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Exkurs 5.2
Die Transformation der Landwirtschaft in Russland
Peter Lindner und Alexander Vorbrugg
Geprägt vom allgemeinen Privatisierungsdiskurs Anfang
der 1990er-Jahre war die Restrukturierung der landwirt-
schaftlichen Kollektivbetriebe in Russland von zwei Grund-
annahmen geprägt: Erstens wurde davon ausgegangen,
dass die Einführung individualisierter Eigentumsrechte
automatisch zu marktwirtschaftlichen Strukturen führen
würde, und zweitens war eine Aufteilung der Großbetriebe
in kleinere Einheiten zumindest implizit das Leitbild der
Reformen. In diesem Sinn verfügte Präsident Jelzin bereits
1991 die Ausgabe von Eigentumstiteln über Land und
Betriebsvermögen an die Beschäftigten der Kolchosen und
Sowchosen sowie die formale Neuregistrierung der Be-
triebe als Unternehmen mit privatwirtschaftlicher Rechts-
form.
Gemessen an ihren eigenen Zielen war diese erste Re-
strukturierungswelle jedoch ein Misserfolg und hatte nur
geringe bzw. nicht intendierte Auswirkungen auf Betriebs-
strukturen und die Organisation der Produktion. Abgesehen
vom allgemeinen wirtschaftlichen Niedergang in den Jahren
nach der Auflösung der Sowjetunion, der auch für die Land-
wirtschaft nicht ohne Folgen blieb, zeigten sich bereits früh
zwei Probleme, welche die Restrukturierung der russischen
Landwirtschaft über die folgenden 15 Jahre hinweg prägten:
Erstens standen Großbetriebe und persönliche Nebener-
werbswirtschaften in einer engen symbiotischen Beziehung
und waren auf vielfältige Weise miteinander verflochten,
was eine Aufteilung der Kollektivbetriebe erheblich er-
schwerte. Zweitens implizierte die Privatisierung und
Marktorientierung der Kolchosen und Sowchosen die Ab-
gabe der Verantwortlichkeit für die soziale und infrastruktu-
relle Versorgung der ländlichen Bevölkerung (Instandhal-
tung der Wasser-, Abwasser- und Telefonleitungen, des Gas-,
Strom- und des Wegenetzes sowie zum Teil der Schulen,
Kindergärten, dörflichen Ambulanzstationen und Kulturhäu-
ser) und setzte deshalb voraus, dass die Gemeindeverwal-
tungen in die Lage versetzt wurden, diese Aufgaben zu
übernehmen.
Unter diesen Rahmenbedingungen zeichneten sich im
Lauf der 1990er-Jahre Veränderungen ab, die weniger von
gezielten Reformbemühungen als vielmehr von den Spiel-
räumen und Restriktionen der allgemeinen wirtschaftlichen
und politischen Situation geprägt waren. Idealtypisch kön-
nen dabei - neben der Wüstung und der Integration in den
suburbanen Raum - vier Entwicklungspfade unterschieden
werden, die jedoch selten in Reinform anzutreffen sind:
„Verbäuerlichung“ als Prozess einer schrittweisen Er-
weiterung der persönlichen Nebenerwerbswirtschaften
und Lockerung der Abhängigkeit von den Großbetrieben
„Kooperation“ als Neuaushandlung und Formalisierung
der existierenden symbiotischen Beziehungen zwischen
Großbetrieb und Nebenerwerbswirtschaften, zum Teil in
Form der Gründung von Produktionskooperativen
„Haziendisierung“ als Akkumulation des Aktienkapitals
der reorganisierten Betriebe in den Händen lokaler Eli-
ten, bei der die ehemaligen Kolchosniks nun als Lohnar-
beiter angestellt sind
„Umwandlung in eine Holding“ - entweder im Zuge der
Übernahme ganzer Betriebe durch Großinvestoren oder
durch interne Aufspaltung in voneinander unabhängige
Einheiten (Ackerbau, Milch- und Fleischwirtschaft, Land-
maschinentechnik usw.) unter dem Dach eines gemein-
samen Managements
Insgesamt begann für die russische Landwirtschaft nach
dem Ende der Sowjetunion ein Niedergang, der von vielen
Betroffenen als Rückfall in die Naturalwirtschaft empfun-
den wurde. Die Privatisierung der Kollektivbetriebe allein
spielte dafür keine ursächliche Rolle. Vielmehr fehlten die
Absatzmärkte für landwirtschaftliche Erzeugnisse und viele
Betriebe, die sich nicht in absoluten Gunstgebieten befan-
den, mussten ihre Produktion stark reduzieren, da Dünger,
Kraftstoffe, Ersatzteile und andere Inputfaktoren ange-
sichts der wachsenden Diskrepanz zwischen Einkaufs- und
Verkaufspreisen unerschwinglich wurden (Abb. 1). Auf dem
Höhepunkt der Krise konnten dann in der Landwirtschaft
nicht nur keine Löhne mehr bezahlt werden, sondern es
blieben auch die für den überalterten ländlichen Raum so
wichtigen staatlichen Rentenzahlungen immer wieder über
Monate hinweg aus. Das Ergebnis waren unter anderem
wachsende soziale Disparitäten, die von den Betroffenen
häufig mit „die Armen werden immer ärmer, die Reichen
werden immer reicher“ auf den Punkt gebracht wurden und
die sich anhand verschiedener sozio-ökonomischer Indika-
toren auch klar nachweisen lassen.
Während in peripheren Ungunsträumen die großbetrieb-
liche Produktion oft völlig aufgegeben wurde, setzte in vie-
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