Geography Reference
In-Depth Information
Exkurs 1.6
Ein viergeteiltes Europa?
In einem Anfang der 1990er-Jahre gehaltenen Vortrag glie-
derte Johan Galtung - nach dem Zusammenbruch der
ideologischen Grenzen zwischen Kommunismus und Kapi-
talismus - Europa holzschnittartig in großräumige religions-
geographisch-ökonomische Gebiete (Abb. 1). Er unterschei-
det dabei vier Räume: das überwiegend durch den
protestantischen Glauben geprägte „Wohlstandseuropa“ im
Nordwesten, das überwiegend katholisch geprägte Süd-
westeuropa mit alter islamischer Vergangenheit, das ortho-
doxe Nordosteuropa sowie das überwiegend orthodox
geprägte Südosteuropa mit junger islamischer Vergangen-
heit. Die Schnittzone dieser vier Europas sieht er im frühe-
ren Jugoslawien.
Kriterien der Gliederung von Galtung sind dabei vorwie-
gend die Grenzen zwischen Christentum und Islam sowie
die innerchristlichen Grenzen. Große Teile Südwesteuropas
waren seit dem frühen Mittelalter, infolge der Expansion
des Islam, für mehrere Jahrhunderte islamisch geprägt.
Dies gilt für fast die gesamte Iberische Halbinsel sowie für
Süditalien.
Seit der frühen Neuzeit sind, im Kontext der Ausbreitung
des Osmanischen Reichs, Teile Südosteuropas mit dem
heutigen Bulgarien, Griechenland und Jugoslawien politisch
und kulturell unter den Einfluss einer islamischen Macht
geraten.
Mit der Gründung des heiligen Kairouan 670 im heutigen
Tunesien hatte sich der Islam in Nordafrika gefestigt. 711
setzten muslimische Truppen nach Spanien über und er-
oberten binnen weniger Jahre vier Fünftel der Iberischen
Halbinsel. Ihr Vormarsch wurde erst bei Poitiers durch ein
karolingisches Heer unter Führung des Hausmeiers Karl
Martell gestoppt (732). Für einige Jahrhunderte entstanden
seit dem späten 8. Jahrhundert politisch unabhängige Rei-
che auf der spanischen Halbinsel, glanzvolle Emirate wie
Córdoba, Sevilla und Granada. Insbesondere Córdoba
schaffte es, über Jahrhunderte ein friedliches Miteinander
von Muslimen, Juden und Christen zu organisieren. Ab dem
13. Jahrhundert gewann jedoch die christliche Reconquista
rasch an Boden. 1236 wurde Córdoba, 1248 Sevilla einge-
nommen. Als Letztes wahrte das Königreich Granada bis zum
Jahre 1492, dem Jahr der Entdeckung Amerikas durch Ko-
lumbus, seine Unabhängigkeit; in jenem Jahr wurde es dem
Vereinigten Königreich Aragon und Kastilien einverleibt.
In Südosteuropa vollzog sich die islamische Expansion
langsamer und später. Einzelne Ereignisse wie die berühmte
römisch-katholisch
protestantisch
überwiegend
protestantisch geprägtes
„Wohlstandseuropa“
zukünftiges, orthodoxes
„Armutseuropa“
Bosnien-Herzegowina
Sarajewo
römisch-katholisch
protestantisch
orthodox
überwiegend katholisch
geprägtes Südeuropa
mit alter islamischer
Vergangenheit
überwiegend orthodox
geprägtes Südeuropa
mit junger islamischer
Vergangenheit
Abb. 2 Sevilla. Orientalische Bauelemente prägen bis heute
die städtischen Zentren auf der Iberischen Halbinsel und auf
dem Balkan. Erhalten sind maurische Festungsanlagen, luxu-
riöse Paläste der Kalifen ebenso wie Reste orientalischer
Stadtgrundrisse. Viele Moscheen wurden später in christli-
che Gotteshäuser umgewandelt (Foto: Hans Gebhardt).
Fortsetzung
islamisch
Abb. 1 Das viergeteilte Europa nach Galtung (verändert
nach: Galtung 1993).
Search WWH ::




Custom Search