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Die „Zimmer des europäischen
Hauses“ - Binnengrenzen
in Europa
Trotzdem oder gerade deshalb: Europäer wissen ihre
Umwelt zu schätzen und gerieren sich gerne als ökologi-
scher Musterschüler! Nach Umfragen des Eurobarome-
ters - einer regelmäßig von der Europäischen Kommis-
sion in Auftrag gegebenen öffentlichen Meinungsumfrage
in den EU-Ländern - fordert eine große Mehrheit von
über 70 Prozent von den Entscheidungsträgern, dass
Umwelt-, Wirtschafts- und Sozialpolitik gleichrangig
behandelt werden. Der einzelne Europäer ist zu Umwelt-
maßnahmen bereit, würde aber auch mehr tun, wüsste
er besser Bescheid über die Möglichkeiten, die wenig
oder gar nichts kosten. Er würde auch dann mehr tun,
wenn er darauf vertrauen könnte, dass seine Mitbürger
sich genauso verhielten.
Umweltbewegung, Umweltbewusstsein und environ-
mental governance sind zentrale Leitlinien Europas ge-
worden und bieten sich daher auch weit stärker als Iden-
tifikation eines ökologischen Europas an als die etwas
beliebig geratenen natürlichen Geofaktoren es zum Aus-
druck bringen können. Bemerkenswert ist in diesem
Zusammenhang, dass unter dem Dach der Europä-
ischen Umweltorganisation EEA (European Environ-
ment Agency) immerhin 32 Staaten kooperieren, also
mehr als in der politischen EU, die 27 Mitglieder hat. In
dieser Hinsicht greift der europäische Umweltgedanke
bereits über das Konstrukt der politischen EU hinaus.
Neben wirtschaftlichen, politischen und strategischen
Überlegungen wird er damit zu einem wesentlichen
Faktor der EU-Erweiterung und des „europäischen
Gedankens“.
Ein charakteristischer Topos, der zur Charakterisierung
Europas und seiner Binnengliederung immer wieder
herangezogen wird, ist der von der Vielfalt der kulturel-
len Erscheinungen und der Kleinkammerung des Reliefs
wie der Landschaftsräume. Europa war und ist zudem
durch eine Vielzahl von ehemaligen Binnengrenzen ge-
prägt, die oft quer zu den heutigen nationalstaatlichen
Grenzen verlaufen. Man versteht viele aktuelle Vor-
gänge, insbesondere die derzeitigen Konflikte im öst-
lichen Mitteleuropa, nur unangemessen, wenn man die
Kontinuität solcher historischer Grenzen und ihr aus
der Geschichte resultierendes Konfliktpotenzial nicht
kennt und zur Bewertung heranzieht.
Persistenz historischer Grenzen
in Europa
Eine der ältesten, heute weitgehend nur noch historisch
relevanten Grenzen wird durch den römischen Limes
gebildet (Abb. 1.10). Er trennte die zivilisierte Welt der
Römer von jener der „barbarischen“ Germanen und Ost-
slawen. In der Sprachentwicklung (romanische versus
germanische beziehungsweise slawische Sprachen) lassen
sich die Nachwirkungen dieser kulturlandschaftlichen
Grenze bis heute noch am deutlichsten wahrnehmen.
Seit dem europäischen Mittelalter gehören zu den
Grenzen mit der größten Stabilität in Europa die Kon-
fessionsgrenzen, das heißt jene zwischen christlicher
und islamischer Bevölkerung sowie zwischen katholi-
schem und orthodoxem Christentum. In der frühen
Neuzeit kommt die Spaltung in protestantische und
katholische Christen hinzu (Exkurs 1.6).
In den knapp 50 Jahren des Kalten Krieges dominier-
ten die von Ideologien bestimmten Grenzen die Bin-
nengliederung Europas. Die von Churchill 1946 als
„Eiserner Vorhang“ bezeichnete Grenze zwischen den
kapitalistischen und den sozialistischen Ökonomien
hatte sehr vielfältige gesellschaftliche und auch räumli-
che Auswirkungen. Bis heute zeigen sie sich in einer
Reihe von Persistenzeffekten im Bild der Städte und der
Kulturlandschaft (Exkurs 1.7).
Fazit
Gehört die Türkei zu Europa? Gehört Sibirien dazu? Der
Kaukasus? Die Geographie kann solche Fragen nicht
beantworten, denn sie weiß „dass wir nicht genau wissen,
wo Europa endet - oder besser gesagt, dass wir genau wis-
sen, dass die Abgrenzungen schlichtweg gesellschaftliche
Konventionen darstellen“ (Fassmann 2002). „Gebirgs-
züge und Meerengen, Küstenlinien und Flüsse, sumpfige
Niederungen und Wüsten sind nicht von sich aus Euro-
pas Grenzen, sondern werden dies erst im Kontext von
Erzählungen, die jenseits des Gebirgskammes, am ande-
ren Ufer oder der Gegenküste eine andere Welt beginnen
lassen. Dasselbe gilt für kulturelle und alle anderen Merk-
male: Ohne ein hinzukommendes narratives Moment
bedeuten sie nichts, rein gar nichts“ (Schultz 2007).
Ein Rückblick in die Geschichte der Geographie
macht deutlich, dass auch die vermeintlich objektiven
Räume der klassischen Geographie keine seinsveranker-
ten Wesenheiten waren, sondern subjektive, standortge-
bundene und demzufolge durchaus wandelbare Kon-
strukte, die sich oft opportunistisch und kaum verhüllt
an den Zeitläuften orientierten.
Neue Grenzen in Europa?
Die in den vier Jahrzehnten der Nachkriegszeit fest
gefügt erscheinenden, trennscharfen Grenzen zwischen
„kommunistischer“ und „kapitalistischer“ Welt sind seit
 
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