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der ersten und die vielleicht bekannteste Darstellung
einer solchen angestrebten polyzentralen Raumstruktur
ist die „Europäische Traube“ (Kunzmann & Wegener
1991), die anschaulich kommuniziert, dass ein politi-
sches Gegensteuern zu den Polarisierungstendenzen er-
forderlich ist, um sowohl die ökonomische als auch die
soziale Kohäsion Europas sicherzustellen. Dieses Um-
denken ist in der EU-Regionalpolitik reflektiert, die zu-
nehmend auf einen Beitrag aller Regionen zur Wettbe-
werbsfähigkeit der EU abzielt durch die Nutzung ihres
spezifischen endogenen Potenzials bzw. des „territoria-
len Kapitals“.
derart erfolgreich, dass bis heute alle möglichen und
unmöglichen Beitrittskandidaten an seinen Pforten um
Einlasse bitten“ (zit. nach „Der Spiegel“ vom 28.2.2011).
Dieses Drängen in die EU wurde von den europä-
ischen Institutionen nicht selten aktiv aufgenommen
und vorangetrieben. Immer wieder wurden Kandidaten,
welche eigentlich allen Beitrittskriterien widersprachen,
umstandslos eingemeindet, zuerst einige Mittelmeer-
staaten (Portugal, Spanien, Griechenland) nach dem
Ende der dortigen Diktaturen, später dann die ehemals
kommunistischen südosteuropäischen Staaten. Die eu-
ropäische Gemeinschaft wurde von einem wirtschafts-
politischen Zusammenschluss immer mehr zu einer
geopolitischen Großorganisation. Schon blicken „unsere
kleinen Geopolitiker danach, ihr Europa immer weiter
auszudehnen. Warum nicht bis in den Kaukasus und bis
in den Maghreb vordringen? Es wäre doch so schön,
Weltmacht zu sein!“ (ebd.). Oder in den Worten von
Alan Posener (2007): „Europa ist das neue Imperium,
aber seine Bürger wissen es noch nicht. In der multi-
polaren Welt von morgen muss Europa als eigenständige
Macht agieren und seinen imperialen Einfluss weiter
ausdehnen, um bestehen zu können.“
Die Europäische Union ist bis an die Grenzen des
geographischen Kontinents (und darüber hinaus) terri-
toriumsordnend geworden. Fast automatisch blicken
wir auf Europa durch die Brille der Union, ordnen seine
Länder nach EU-Kriterien als Euroländer oder Beitritts-
kandidaten oder definieren, wie der ehemalige deutsche
Außenminister Fischer, die „Finalität“ dieses Europas
und seine wie auch immer gearteten Grenzen.
Bei dieser EU-zentrierten Ordnung des Territoriums
spielen geographische Argumentationen eine wesentli-
che Rolle, sei es in Form scheinbar neutraler Fakten und
Begründungsansätze zur Inklusion und Exklusion von
Staaten (mit Argumentationssträngen wie „Mittellage“
oder „Überdehnung“), sei es mit historisch-kulturellen
Diskursen über Zugehörigkeit oder Nichtzugehörigkeit
(beispielsweise im Falle der Türkei). Reuber et al. (2004)
nennen daneben den Sicherheitsdiskurs, wenn es darum
geht, einen europäischen „Sicherheitskordon“ gegen
Bedrohungen aus dem Osten zu errichten und zugleich
die osteuropäischen Staaten zu schützen. Damit in Ver-
bindung steht ein Diskurs der balance of power , schließ-
lich ein Konsolidations- und Vertiefungsdiskurs, der auf
die Festigung und innere Stärkerung der EU zu einer
politischen Organisation von globaler Bedeutung zielt.
Diese einzelnen Argumentationsstränge lassen sich zu
stärker ökonomischen, eher politischen oder aber kultu-
rellen oder aber geodeterministischen Diskursfragmen-
ten bündeln (Abb. 4.29), wobei zu verschiedenen Zeiten
unterschiedliche Argumentationslogiken in den Vorder-
grund traten. Immer aber ging es um argumentative
Begründungen der Inklusion oder Exklusion von Staa-
ten bezüglich des „europäischen Klubs“.
Europa als geo-
politisches Projekt
Hans Gebhardt
In seinen 1987 erschienenen Reportagen „Ach Europa“
hatte der Essayist und Dichter Hans Magnus Enzensber-
ger nach einem Besuch in sieben europäischen Ländern
die bewahrenswerte Vielfalt Europas beschrieben. Ein
Vierteljahrhundert später thematisiert er in einem
neuen Buch „Sanftes Monster Brüssel oder die Entmün-
digung Europas“ (2011), wie eine „bürokratische Dikta-
tur“ jene Unterschiede immer mehr verschwinden lässt.
Die EU ist in Europa hegemonial geworden und legt
sich oft wie ein Schleier über das „kulturelle Europa“
und seine Vielfalt, nicht nur in Form der vielbeschwore-
nen Regelungswut der europäischen Bürokratie mit
ihren demokratischen Defiziten, sondern auch in Form
einer, wie Enzensberger das nennt, vorbildlosen Form
von weicher, aber gleichwohl wirkungsmächtiger Herr-
schaft. „Sie bewegt sich auf leisen Sohlen. Sie gibt sich
erbarmungslos menschenfreundlich. Sie will nur unser
Bestes. Wie ein gütiger Vormund ist sie besorgt um
unsere Gesundheit, unsere Umgangsformen und unsere
Moral. Auf keinen Fall rechnet sie damit, dass wir selber
wissen, was gut für uns ist […] Deshalb müssen wir
gründlich betreut und umerzogen werden. Wir rauchen,
wir essen zu viel Fett und Zucker, wir hängen Kruzifixe
in Schulzimmern auf, wir hamstern illegale Glühbirnen,
wir trocknen unsere Wäsche im Freien, wo sie nicht hin-
gehört […] Kann es jedem Land überlassen bleiben, wie
es in seinen Universitäten und Schulen zugeht? Wer
sonst als die Kommission soll darüber befinden, wie der
europäische Zahnersatz oder die europäische Kloschüs-
sel auszusehen haben?“ (zit. nach „Der Spiegel“ vom
28.2.2011).
Als zentralen Erfolg des europäischen Einigungspro-
zesses wertet er immerhin, abgesehen vom Verschwin-
den der Binnengrenzen, den lange Zeit anhaltenden
wirtschaftlichen Erfolg: „Ökonomisch war er lange Zeit
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