Geography Reference
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Die Vorstellungen zu Europa oszillierten immer zwi-
schen der Idee eines „gemeinsamen Hauses zwischen
Kanal und Ural“, einer Vision, welche zuletzt Gorbat-
schow Anfang der 1990er-Jahre im Zusammenhang mit
dem Zusammenbruch der Sowjetunion formuliert
hatte, und der Idee eines „geopolitischen Klubs“, welche
unter anderem der frühere deutsche Außenminister
Joschka Fischer in seiner Rede zur „Finalität“ Europas
im Jahr 2000 herausgearbeitet hat. Die EU wird hier als
„closed shop“ ohne die Nachfolgestaaten der früheren
Sowjetunion konzipiert. Diese gehören zwar zum
Kontinent Europa, aber eben nicht zum europäischen
„Klub“.
Die Türkei liegt ganz offenkundig weder im natur-
räumlich abgegrenzten Kontinent Europa noch ist sie
von christlich-abendländischer Kultur geprägt. Über
die EU-Mitgliedschaft der Türkei zu diskutieren, heißt
die engen wirtschaftsräumlichen Beziehungen sowie
die Migrationsverflechtungen in den Vordergrund zu
rücken. Die Türkei als Teil des europäischen Arbeits-
marktes ist in dieser Sicht ein Bestandteil des ökonomi-
schen Europa.
Aus geographischer Sicht sind die Europadiskurse
der letzten Jahrzehnte vor allem deshalb interessant, weil
hier mit unterschiedlichen Raumbildern von Europa
und Deutschland Politik gemacht wird. Sie bilden einen
exemplarischen Anwendungsfall politisch-geographi-
scher Diskurse und praktischer Geopolitik (Reuber et al.
2005). Die Vision vom gemeinsamen „europäischen
Haus“ mit dem Raumbild des geographischen Konti-
nents Europa hatte ab dem Zeitpunkt ausgedient, als das
Bedrohungspotenzial der ehemaligen Sowjetunion in
der zweiten Hälfte der 1990er-Jahre verblasst war. Nun-
mehr begann sich der Diskurs um die europäische
Gemeinschaft zunehmend vom geographischen Konti-
nent zu lösen und in Richtung eines ökonomischen
Klubs zu bewegen, wie sich in der Diskussion um die
Türkei wie auch um die „Finalität“ Europas exempla-
risch zeigt.
Das ökonomische Europa -
Europa als gemeinsamer Markt
Ökonomische Zusammenschlüsse in Europa seit dem
Zweiten Weltkrieg haben Raumbilder geprägt, welche
sich von denen um 1900 (Abb. 1.2) unterscheiden.
Insbesondere die im Kontext des Kalten Kriegs ent-
standenen Wirtschaftszusammenschlüsse wie die Euro-
päische Gemeinschaft (EG) und spätere EU sowie die
Europäische Freihandelszone (EFTA) und andererseits
der Rat für gegenseitige Wirtschaftshilfe (COMECON)
haben über mehrere Jahrzehnte die wirtschaftsräum-
lichen Vorstellungen von Europa strukturiert. Erst nach
1990 traten ältere, unterlagernde kulturelle Raumbilder
wieder etwas stärker in den Vordergrund, wie das Bei-
spiel der Türkei und deren umstrittene EU-Mitglied-
schaft zeigen.
Das ökologische Europa -
Europa als „Musterschüler“?
Das ökologische Europa offenbart ein vielfältiges Bild
der Irregularität, des Wirrwarrs, der Defekte und Chan-
Abb. 1.8 Tagebau Garzweiler im
rheinischen Braunkohlerevier. Der
Braunkohletagebau vermittelt die
Komplexität und Vielschichtigkeit von
Umweltbelangen: Zum einen stellt er
eine wichtige Rohstoffquelle für die
Energieversorgung mit massiven Eingrif-
fen in den Naturhaushalt dar. Zum
anderen ist er Gegenstand politischer
Aushandlungsprozesse, geprägt durch
manifeste soziale Implikationen infolge
von Umsiedlungen. Er ist aber auch
Beispiel für Landschaftsrekonstruktion
und gerät neuerdings aufgrund der
hohen CO 2 -Emissionen in die Kritik
(Foto: Christiane Martin).
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