Geography Reference
In-Depth Information
Union ist also nicht nur eine territoriale Verlagerung,
sondern bedeutet zugleich eine skalare Re-Organisation
(Belina & Miggelbrink 2010). Das vergemeinschaftete
Grenzregime ist Teil und Ausdruck der paradoxen Kon-
struktion der Europäischen Union, die nach wie vor im
Wesentlichen darauf beruht, ein Zusammenschluss von
Nationalstaaten zu sein, die zum Zwecke einer stärkeren
wirtschaftlichen Performanz eine wirtschaftliche Ein-
heit bilden, die aber im Konfliktfall zumindest auf der
diskursiven Ebene nationalistisch unterlaufen werden
kann - etwa, weil steigende Flüchtlingszahlen aus den
nordafrikanischen Staaten befürchtet werden oder
durch die drohende Staatsinsolvenz Griechenlands. Die
„Integrationsgewinne“ der vergemeinschafteten Grenze
können stets durch die Souveränitätsansprüche der Mit-
gliedsstaaten infrage gestellt werden. Darüber hinaus
resultiert - nicht zuletzt mit Blick auf die unmittelbar an
den Schengen-Raum angrenzenden Staaten des mittle-
ren und östlichen Europa - aus der aktuellen politischen
Ausgestaltung des Grenzregimes ein Kontrolldilemma:
Die aktuelle restriktive Einreisepolitik und die im
Sicherheitsparadigma kontrolltechnisch hochgerüstete
Grenze steht dem zeitgleich und ebenfalls von politi-
scher Seite proklamierten Interesse an einer engen nach-
barschaftlichen Zusammenarbeit im Wege. Die alltäg-
lichen Praktiken der Aneignung dieser Grenze durch die
Grenzlandbewohner - seien sie legaler, seien sie illegaler
und subversiver Art - sind damit deutlich erschwert
worden.
Aus der Innen- oder Eigensicht war Europa immer
schon mehr als EU, Euro oder Brüsseler Bürokratie - es
war auch ein „Zivilisierungsprojekt“, eine Idee. Europäi-
sche Intellektuelle hinterfragen jedoch nur selten ihre
eigenen - meist unreflektierten - Ideen und Prämissen
über „zivilisatorische Aufgaben“ Europas. „Europäer
tendieren,“ schreibt Hans Ulrich Gumbrecht, „zuneh-
mend zu einer Verwechslung ihrer eigenen Normen und
Institutionen mit dem anthropologisch ‚einzig Richti-
gen'“ (Gumbrecht 2010). Und Wang Hui, ein führender
chinesischer Intellektueller, klagte jüngst darüber, dass
„wenn europäische Intellektuelle nach China kommen,
[…] sie ihre kritische Einstellung gegenüber ihrem eige-
nen politischen System [vergessen]“ (zitiert in Neue
Zürcher Zeitung, 23.10.2010). Es scheint, als blendete
der europäische Intellektuellenhabitus weitgehend aus,
wie über „Europa“ - als Idee, als ehemalige Kolonial-
macht, als EU - außerhalb des Westens gesprochen wird.
Wang Hui warnte bereits in seinem 1997 erschienen
Aufsatz „Contemporary Chinese Thought and the Ques-
tion of Modernity“ (1998) vor einer kritiklosen Über-
nahme westlichen Denkens.
Geschichte wird auch heute noch gerne aus der Sicht
Europas geschrieben, eines Europas, das als Wiege der
Moderne, der Aufklärung skizziert und dem deshalb
eine universalistische Mission zugeschrieben wird. Es ist
ein Narrativ, das Europa als geschichtliche Avantgarde
erzählt. Forschungsarbeiten zur Globalgeschichte relati-
vieren jedoch diese Eigensicht (Conrad & Randeria
2002): Der britische Historiker John Darwin zum
Beispiel gesteht in seiner Globalgeschichte der großen
Reiche von 1400 bis 2000 Europa nur eine Rolle als Welt-
provinz unter vielen zu (Darwin 2010). Noch grundle-
gender hinterfragt der indische Historiker Dipesh Cha-
krabarty in „Provincializing Europe“ (2008) die implizite
Ortlosigkeit universalistischer Begriffe europäischer
Historiographie, deren begriffliches Instrumentarium
die europäische Geschichte zum Modell einer universa-
len „Entwicklung“ macht und die kolonisierte Welt in
„den Warteraum der Geschichte“ verweist. Chakrabarty
bestreitet, dass es eine solche universale, ortlose „List der
Vernunft“ gebe, die zu einer Konvergenz der globalen
Geschichte(n) entlang einer von Europas Modell vorge-
gebenen Teleologie führen würde.
Darwins und Chakrabartys Projekte erscheinen auf
den ersten Blick übereinzustimmen, doch unterscheiden
sie sich schon alleine aus der Position der beiden Auto-
ren heraus: Darwin dezentriert die europäische Histo-
riographie einer Globalgeschichte, indem er Europas
Rolle darin - in dieser Historiographie - zurechtrückt.
Als Historiker Indiens will Chakrabarty nicht einfach
die Kolonialerfahrung und die damit verbundene euro-
zentrierte Geschichts- und Philosophieschreibung aus-
blenden. Sie ist konstitutiv für jegliches Bild von sich
und von Europa, denn auch die indische Geschichts-
Aussichten auf Europa
Benedikt Korf
In diesem Abschnitt (überarbeitete Fassung aus Korf
2009) geht es um Außen(an)sichten auf Europa als
Idee, als politisches Konstrukt, als Institution. Doch ist
eine Außen(an)sicht auf Europa überhaupt möglich,
ohne in einer postkolonialen Welt (und auch die USA
haben ja einmal als europäische Siedlerkolonie begon-
nen) schon die Innensichten verinnerlicht zu haben?
Denkkategorien sind immer auch an ihren Entste-
hungsort gebunden und tragen Spuren von Vorurteilen
aus diesen Entstehungskontexten mit sich. Dieses Di-
lemma formuliert der postkoloniale Denker und Histo-
riker Dipesh Chakrabarty in „Provincializing Europe“
(2008). Chakrabarty möchte den Eurozentrismus der
Historiographie und der Sozialwissenschaften durch
neue Einsichten aus den Peripherien der Welt hinter-
fragen und öffnen; gleichwohl konstatiert er es als fast
„unmögliches“ Projekt, sich des universalistischen An-
spruchs der Historiographie und der Geographien der
Moderne als Resultat der europäischen Aufklärung zu
entziehen.
Search WWH ::




Custom Search