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souveränen Staaten - das sind am ehemals westlichen
Rand der UdSSR die baltischen Staaten Estland, Lettland
und Litauen, die heute der EU angehören, sowie Belarus,
die Ukraine und die Republik Moldau - änderte sich der
Status zahlreicher Grenzen. Zum einen wurden einige
ehemalige Binnengrenzen der UdSSR mit bis dato regio-
nal-administrativer Bedeutung zu Grenzen souveräner
Staaten, in denen neu nachgedacht wurde über das
nationale Selbstverständnis, ethnische Zuordnungen
und Minderheiten, Sicherheit und geopolitische Bezie-
hungen (Kuus 2007 am Beispiel Estlands). Anders als in
manchen westeuropäischen Diskursen waren Grenzen
hier nicht so sehr ein zu überwindendes, beinahe schon
anachronistisches Hindernis auf dem Weg zu Vernet-
zung, Integration und Einheit, sondern zu allererst Aus-
druck und Garant neuer, teils revolutionär gewonnener
Souveränität. Zum anderen wurden Staatsgrenzen ihrer
Funktionen für die bestehende ideologische Blockbil-
dung zwischen „Ost“ und „West“ entkleidet; an ihre
Stelle konnten neue, nicht weniger interessengeleitete
Funktionszuweisungen treten - am deutlichsten wohl
im Falle der baltischen Staaten, Polens, Ungarns, Slowe-
niens, Tschechiens und der Slowakei, die - nachdem sie
kurz zuvor NATO-Mitglieder geworden waren - zum
1.5.2004 der Europäischen Union beitraten und sich
damit verpflichten mussten, das seit Mitte der 1980er-
Jahre entstehende Grenzreglement der westeuropäi-
schen Staaten zu übernehmen.
Der Neu- und Umbildung von Staatsgrenzen im
mittleren und östlichen Europa zwischen 1989 und 1991
im Kontext der Neu-, Wieder- und Umbildung von Staa-
ten stand im westlichen Europa ein Prozess der Verände-
rung von Grenzfunktionen entgegen, der seinen Ur-
sprung in der Integration starker, aber im Vergleich zu
den USA kleiner Nationalökonomien hatte. Nach einer
Phase der Stagnation der Integration der westeuropäi-
schen Staaten wurde zu Beginn der 1980er-Jahre vor
allem von unternehmerischer und wirtschaftsnaher
Seite (van Apeldoorn 2000) eine Reform der Gemein-
schaft gefordert, durch die die einzelnen Binnenmärkte
der in der Gemeinschaft zusammengeschlossenen
Nationalökonomien zu einem gemeinsamen Binnen-
markt umgewandelt werden sollten, um economies of
scale nutzen zu können (van Apeldoorn 2000). Der
Abbau von wirtschaftsrelevanten Grenzfunktionen
(negative Integration) in Bezug auf die vier Freizügig-
keiten - Warenverkehrsfreiheit, Personenfreizügigkeit,
Dienstleistungsfreiheit und der freie Kapital- und Zah-
lungsverkehr - nahmen ihren Ausgang in der 1985 ver-
abschiedeten und 1992 in Kraft getretenen Einheitlichen
Europäischen Akte (EEA). Sie führte zur Harmonisie-
rung wichtiger wirtschaftsrelevanter Regelungen und
ermöglichte den freien Handel zwischen Mitgliedsstaa-
ten. Wesentliche Vorbedingung für den Wegfall von
Grenzfunktionen im Inneren der Gemeinschaft war die
Verlagerung der (wirtschaftsrelevanten) Grenzfunktio-
nen an die Außengrenze des entstehenden europäischen
Binnenmarktes.
Das Schengener Übereinkommen (1985; SÜ, gele-
gentlich auch als „Schengen I“ bezeichnet) und das
Schengener Durchführungsübereinkommen (1990;
SDÜ, „Schengen II“) schufen die dafür notwendigen
Regularien, auf die sich die Unterzeichner verpflichte-
ten. Formal waren diese beiden Übereinkommen
zunächst nicht Bestandteil der Europäischen Gemein-
schaften, sondern multilaterale Abkommen mehrerer
westeuropäischer Staaten, und zwar zwischen Belgien,
den Niederlanden, Luxemburg, Frankreich und Deutsch-
land, die ein besonderes Interesse an der wirtschaft-
lichen Integration hatten. Die Präambel des Schengener
Übereinkommens versteht den Wegfall der Binnengren-
zen allerdings nicht als durch wirtschaftliche Interessen
bedingt (Bohle 2000, van Apeldoorn 2000), sondern als
logische Konsequenz der „immer engere[n] Union zwi-
schen den Völkern der Mitgliedstaaten der Europä-
ischen Gemeinschaften“. Erst mit dem Vertrag von
Amsterdam (1997) wurde das Schengener Vertragswerk
formal in das EU-Recht integriert. Das heißt, dass die
Weiterentwicklung der Regelungen und Maßnahmen
nun den Organen der EU obliegt, obwohl sie aus den
Interessen weniger Staaten hervorgingen und obwohl
nicht alle Staaten dem Schengen-Raum angehören. Als
jüngste Ergänzung der Schengener Übereinkommen
wurde 2005 der sogenannte Prümer Vertrag (gelegent-
lich als „Schengen-III“ bezeichnet) geschlossen. Mit die-
sem Vertrag, der nicht Teil des EU-Rechts ist, haben sich
die Signatarstaaten Belgien, Deutschland, Spanien,
Frankreich, Luxemburg, die Niederlande und Österreich
auf weitergehende Maßnahmen zur Bekämpfung des
Terrorismus, der grenzüberschreitenden Kriminalität
und der sogenannten illegalen Migration geeinigt, die
unter anderem auch den Austausch von DNA-Analyse-
Dateien beinhaltet. 2005 wurde die europäische Grenz-
schutzagentur FRONTEX gegründet, die basierend auf
dem Primat einer sicherheitsorientierten Grenzschutz-
politik Risikoanalysen betreibt, nationale Grenzschutz-
einrichtungen und ihre Tätigkeiten koordiniert (Belina
& Miggelbrink 2011) und Migration unter dem Vorzei-
chen ihrer „Illegalität“ überwacht und verhindert.
Das mit der Implementierung des Schengener Über-
einkommens geschaffene Grenzregime der Europä-
ischen Union und der dem Übereinkommen beigetre-
tenen Staaten ist ein Novum in der europäischen
Geschichte. Erstmals wurde ein Grenzregime etabliert,
das nicht mehr von der Souveränität einzelner Staaten
ausgeht, sondern auf dem Abtreten von Teilen der Sou-
veränität an eine suprastaatliche Einheit basiert, die
ihrerseits Elemente einer neuen Staatlichkeit etabliert
(zur Staatlichkeit der EU Ziltener 2000). Die räumliche
Verlagerung der Grenzfunktionen an den Rand der
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