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Verwaltung, ihr Mann ist Lehrer, sie haben zwei kleine Kin-
der. Obwohl sie und ihr Mann voll erwerbstätig sind, reichen
ihre Gehälter nicht aus, um die Familie zu ernähren. „Wir
haben zwei Einkommen, aber sind gezwungen, nach Russ-
land zu fahren“, beklagt sich Joanna. Wochentags gehen
beide ihrer offiziellen Erwerbstätigkeit nach, nur an den
arbeitsfreien Wochenenden bleibt ihnen Zeit, mit dem eige-
nen Pkw nach Russland zu fahren, dort Zigaretten, Benzin
und Wodka zu kaufen und diese an einen polnischen
Zwischenhändler zu verkaufen. Bei jedem Grenzübertritt
versuchen sie, 16 bis 20 Zigarettenstangen nach Polen zu
schmuggeln. Damit gehen sie ein hohes Risiko ein, denn nur
der Transport bis zu einer Zigarettenstange ist legal. Wird
die Ware vom Zoll gefunden, drohen ihnen hohe Bußgelder.
Ihnen bleibt aber keine andere Wahl: Angesichts niedriger
Löhne sind sie existenziell auf die informellen Zusatzeinnah-
men angewiesen, denn diese machen mit etwa 500 Z ł oty
(ca. 124 Euro) rund ein Viertel ihrer monatlichen Einnahmen
aus. Joanna nutzt die Grenze also durch illegalen Waren-
transport als ergänzende Ressource, um ihre Familie zu
ernähren.
Antonina hat in ihrem erlernten Beruf als Ingenieurin
„bis zum Chaos“, also bis zur Perestroika, in ihrer belarus-
sischen Heimatstadt Brest gearbeitet. Als ihre Firma Anfang
der 1990er-Jahre in Konkurs ging, verlor sie ihre Stelle und
begann auf dem Markt mit Obst zu handeln. Seit dem Jahr
2000 hält sie sich und ihre studierende Tochter mit dem
Kleinhandel von Textilien über Wasser. Bis zur Übernahme
des Schengener Abkommens durch Polen und der damit
verbundenen Einführung des für belarussische Staatsbür-
ger 60 Euro teuren Schengen-Visums kaufte sie ihre Waren
in der polnischen Grenzstadt Bia ł ystok. Seitdem überquert
Antonina zweiwöchentlich in einem privaten Minibus die
belarussisch-ukrainische Grenze, um auf dem Großmarkt
ihre Waren zu besorgen und diese auf dem Markt in Brest
an einem kleinen Stand zu verkaufen. Die ungewissen War-
tezeiten machen die Dauer dieser Fahrten unvorhersehbar.
Im Gegensatz zu Joanna bezieht sie ihre gesamten Einnah-
men aus ihrer Tätigkeit als selbstständige grenzüberschrei-
tende Kleinhändlerin, die die Grenze auf vollkommen legale
Weise als eine Ressource nutzt.
Auch Kleinunternehmer machen ihre Geschäfte über die
Grenze hinweg. Im Unterschied zu individuellen Schmugg-
lern und Kleinhändlern haben sie aufgrund besserer finan-
zieller und personeller Ausstattung vielfältigere Möglichkei-
ten, mit den Unwägbarkeiten der Grenzüberschreitung
umzugehen. So nutzen zum Beispiel ukrainische Unterneh-
mer die Kooperation mit Logistikunternehmen. Diese über-
nehmen den eigentlichen Transport der Ware über die
Grenze, sodass der Unternehmer selber die Wartezeit
spart.
So unterschiedlich die Realisierungen der Grenze als
Ressource sind, eine gemeinsame Voraussetzung haben all
jene, die die EU-Außengrenze ökonomisch nutzen: Grenz-
überschreitende ökonomische Aktivitäten müssen sich für
sie lohnen. Das tun sie, solange die Überquerung der
Grenze finanziell und zeitlich für Personen und Güter mög-
lich bleibt. Die Vergabepraxis der benötigten Schengen-
Visa jedoch wirkt einer Durchlässigkeit der Grenze eher
entgegen, sodass fraglich ist, wie lange und für welche Per-
sonen die östliche Außengrenze der EU auch in Zukunft
eine Ressource darstellen kann.
Zuwanderung zu verhindern, sind ein zentraler Be-
standteil des EU-Migrationsregimes (Walters 2010).
Dazu gehören beispielsweise der Ausbau des Grenz-
schutzes durch Kontrollen, Informationsaustausch und
das Sammeln personenbezogener Daten, die Verschär-
fung der Visumspflicht, eine gemeinsame Rückfüh-
rungspolitik für irreguläre Migranten und abgelehnte
Asylbewerber sowie Kriterien für die Durchführung von
Asylverfahren, die verhindern sollen, dass Flüchtlinge in
mehreren Mitgliedsstaaten Asylanträge stellen (Geiger
2011). Die Umsetzung dieser Vorgaben ist eine Bedin-
gung für die Aufnahme neuer Mitglieder in die EU und
den Schengen-Raum - mit Folgen, wie sie an der pol-
nisch-ukrainischen Grenze zu beobachten sind, wo die
Abschottung die traditionelle transnationale Mobilität
unterbricht. Ein weiteres Element der restriktiven
Migrationskontrolle ist die Gründung der Grenzschut-
zagentur FRONTEX 2005, zu deren mehrmals erweiter-
ten Kompetenzen neben der Unterstützung und Koordi-
nation von „Operationen“ gegen „illegale“ Migranten
auch das Generieren von Wissen über Migrationsbewe-
gungen gehört (Kasparek 2010).
Der Abschottungsraum Europa endet nicht an den
territorialen Außengrenzen der EU-Mitgliedsstaaten.
Vielmehr ist ein Prozess der „Exterritorialisierung“ der
EU-Migrationspolitik unverkennbar. So werden Maß-
nahmen der Steuerung und Verhinderung von Migra-
tionsbewegungen räumlich in das Gebiet von Dritt-
staaten außerhalb der EU verlagert (Geiger 2011).
Herkunftsländer von Migranten und sogenannte Tran-
sitländer werden durch politische und wirtschaftliche
Anreize bzw. Sanktionsdrohungen - beispielsweise im
Zusammenhang mit dem Beitrittsprozess zur EU oder
mit Kooperationsprogrammen wie der Europäischen
Nachbarschaftspolitik - dazu bewegt, in der Migrations-
steuerung eng mit der EU und ihren Mitgliedsstaaten
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