Geography Reference
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Europa - Raumbilder
und geographische
Territorialisierungen
korrespondierende Begriffe wie Westmitteleuropa oder
Südwesteuropa sind keineswegs gebräuchlich.
Manche dieser Raumkonstruktionen sind durchaus
auch umkämpfte Begriffe geworden. „Die Rückkehr
nach Mitteleuropa“ strebten die Intellektuellen in den
„ostmitteleuropäischen Staaten“ Tschechoslowakei und
Polen nach der politischen Wende 1990 an. Gemeint war
damit natürlich keine geographische Verschiebung die-
ser Länder, sondern eine Rückkehr zur demokratisch
und marktwirtschaftlich organisierten Seite Europas.
Umgekehrt war Osteuropa in den Jahren der kommu-
nistischen Herrschaft zu einem in den Ohren des „Wes-
tens“ negativ aufgeladenen Begriff geworden, einem
Begriff, der ähnlich wie „Balkan“ Distanz signalisierte.
Die Geographie benutzte und benutzt eine Vielzahl von
Raumbildern und räumlichen Abgrenzungen, um Eu-
ropa zu untergliedern. Dabei handelt es sich immer um
Abstraktionen und zugleich Vereinfachungen, manch-
mal „Banalisierungen“ komplexer naturräumlicher oder
sozio-ökonomischer Zusammenhänge. Keines dieser
Raumbilder und keine dieser Gliederungen ist unmittel-
bar in der „Wirklichkeit“ angelegt. Sie dienen in landes-
und länderkundlichen Darstellungen dazu, Geofaktoren
zu ordnen, übersichtlich und handhabbar zu machen.
Sie stellen gewissermaßen eine geographische didakti-
sche Methode dar.
Im Laufe ihrer Disziplingeschichte hat die Geogra-
phie eine Vielzahl solcher Raumbilder entwickelt, sei es,
dass sie bestimmte Lagetypen von Staaten wie Küsten-
oder Binnenstaaten ausweist, sei es auch, dass für die
innere Gliederung der europäischen Staaten die immer
gleichen Stereotype und Topoi bemüht werden: der
französische Zentralismus mit dem „Wasserkopf“ Paris,
das „dreigeteilte“ Italien, die innere Fragmentierung
Belgiens, die Abschottung der Schweiz und so weiter.
Solche Raumkonstruktionen sind zu Recht kritisiert
worden; sie sind oberflächlich, statisch, häufig geodeter-
ministisch und verschleiern in ihren räumlichen Chiff-
ren komplexere Zusammenhänge (Schlottmann 2003).
Gleichwohl erleichtern sie die Übersicht, und es ist viel-
leicht nicht ganz ohne Reiz, wenigstens in aller Kürze
einigen vergangenen und gegenwärtigen geographi-
schen Raumkonstruktionen innerhalb Europas nachzu-
spüren und an Länderbeispielen zu erläutern, weil sich
darin auch gesellschaftliche Wissensordnungen zeigen.
Europa im geographischen
Formenwandel
Für die Territorialisierung und innere Gliederung des
Halbkontinents Europa hat die Geographie im Laufe
ihrer Disziplingeschichte eine Reihe von Ordnungssche-
mata entwickelt. Relativ systematisch versuchte vor
allem der Geograph Hermann Lautensach in den
1950er-Jahren alle denkbaren Kategorien räumlicher
Unterschiede in ein Schema zu fassen, in die Lehre vom
„geographischen Formenwandel“.
Das Prinzip der Formenwandellehre besteht in der
Anerkennung des regelhaften Charakters von Verände-
rungen auf der Erdoberfläche. Es handelt sich dabei um
ein heuristisches Modell der räumlichen Ordnung der
Geosphäre. Lautensach geht davon aus, dass sich Geo-
faktoren (Oberflächenformen, Klima, Vegetation, aber
auch Siedlungen) auf der Erdoberfläche in vier Kate-
gorien bzw. Richtungen systematisch verändern. Diese
sind:
der planetarische oder polar-äquatoriale Formen-
wandel, welcher sich mit Veränderungen in Nord-
Süd-Richtung befasst
Lagebeziehungen und
Himmelsrichtungen
der hypsometrische oder vertikale Formenwandel,
welcher systematische Veränderungen der Geofakto-
ren mit zunehmender Höhe in den Blick nimmt und
beispielsweise Höhenstufen der Vegetation oder der
Besiedlung ausweist
In landeskundlichen Darstellungen wird Europa auf der
obersten Gliederungsebene nicht selten nach simplen
Lageparametern gegliedert. So lassen sich unter dem
Begriff „Nordeuropa“ die skandinavischen Staaten zu-
sammenfassen, „Westeuropa“ meint häufig Großbritan-
nien, Frankreich und die Beneluxstaaten, „Osteuropa“
alles, was bis 1990 hinter dem „Eisernen Vorhang“ ver-
schwunden war.
Schon in Kapitel 1 ist gezeigt worden, wie variabel
und volatil diese Lagebeziehungen sind (Abb. 1.12). Sie
sind auch alles andere als systematisch. So existieren
zwar Bezeichnungen wie Ostmitteleuropa oder Südost-
europa (und z. B. auch ein Atlas von Südosteuropa), aber
der west-östliche oder maritim-kontinentale For-
menwandel, welcher Veränderungen von Westen
nach Osten, in Europa die Übergänge vom Meer zum
Landesinneren, thematisiert
der zentral-periphere Formenwandel, welcher die
Zusammenhänge und Interaktionen zwischen einem
Zentrum und der umgebenden Peripherie erklärt
Damit werden die Erscheinungen der Erdoberfläche als
gesetzmäßige, regelhafte Veränderung im Raum inter-
pretiert. Lautensach hatte sein Schema am Beispiel der
 
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