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Exkurs 3.6
Kontroversen um die EU als
politisch-geographisches Projekt
Veit Bachmann
Wie bereits weiter oben dargelegt, ging es seit Beginn der
Debatten zu Europas geopolitischer Identität und Rolle
darum, das innereuropäische System politisch-ökonomi-
scher Organisation auf die Außenbeziehungen zu übertra-
gen (Duchêne 1973). In Hettne und Söderbaums Worten ist
es die Zivilmacht, die der Regionalintegration Europas
zugrunde liegt, die auch in den Außenbeziehungen als das
präferierte Weltordnungsmodell projiziert wird (Hettne &
Söderbaum 2005). Die Interaktionsräume, die sich zwi-
schen den staatlichen und nichtstaatlichen Akteuren inner-
halb der EU entwickelten, sollten ebenfalls den Maßstab für
externe Beziehungen setzen, idealerweise auch für die
Beziehungen externer Akteure untereinander.
John Agnew unterscheidet zwischen strukturellem und
territorialem Raumverständnis. Ersteres entwickelt sich
durch gegenseitige Interaktionen und Beziehungen der
Bestandteile eines Raumsystems, Letzteres bezieht sich auf
die physische Anordnung einer Reihe von territorial abge-
grenzten Nationalstaaten (Agnew 1994). Im Folgenden soll
aufgezeigt werden wie - für die EU als politisch-geographi-
sches Projekt - in unterschiedlichen Fällen beide Versionen
des Raumverständnisses zum Ausdruck kommen. Es wird
hierbei betont, dass die EU in beiden Fällen als Prozess
anzusehen ist, als ein Experiment andauernder interner
Konsolidierung und (Re-)Konstruktion zwischen verschiede-
nen Sichtweisen und Akteuren sowie entsprechender exter-
ner Positionierung.
Im ersten Fall rückt die Auseinandersetzung mit Inter-
aktionsräumen im Sinne von Arrangements von Organisa-
tionsstrukturen und -prozessen sowie den inneliegenden
Abläufen ins Zentrum politisch-geographischer Arbeiten.
Strukturen beschreiben hierbei die groben institutionellen
und rechtlichen Rahmenbedingungen, Prozesse hingegen
die Parameter und Inhalte der eigentlichen Interaktionsab-
läufe. Es geht dementsprechend nicht um physische Raum-
abgrenzungen, sondern um die Gestaltung von Interaktion
und des Kollektivs auf politischer, gesellschaftlicher und
wirtschaftlicher Ebene. Das Ziel dabei ist ein „Europa ohne
Grenzen“ (Bundesregierung 2007) durch den Aufbau größt-
möglicher Flexibilität und Bewegungsfreiheit innerhalb der
EU, zum Beispiel durch freie Wohn- und Arbeitsplatzwahl, zu
erreichen. Es handelt sich also um Deterritorialisierungs-
prozesse, die dem Ideal einer räumlichen Ungebundenheit
entgegenstreben.
Im zweiten Fall hingegen stehen territoriale Abgrenzun-
gen im Vordergrund. Dies bezieht sich in erster Linie auf die
Migrations- und Grenzpolitik der EU. Dem „Europa ohne
Grenzen“ im Inneren steht hierbei eine räumliche Abschot-
tung nach Außen gegenüber (Abb. 1). Durch den Aufbau
entsprechender Grenzregime und -praktiken, operationali-
siert durch die Europäische Agentur für die operative Zu-
sammenarbeit an den Außengrenzen (FRONTEX), wird hier-
bei eine klare rechtliche und räumliche Trennung zwischen
EU- und nicht-EU Territorium idealisiert. Das innereuropäi-
Resümee: Die Europäische Union als
fragile Staatlichkeit
tritt der zehn Länder gingen rund 10-jährige Verhand-
lungen voraus, in denen die strukturelle und institutio-
nelle Entwicklung der Kandidaten auf die EU zu in Fort-
schrittsberichten ständig überprüft wurde. Kritische
Bewertungen führten im Fall von Bulgarien und Rumä-
nien dazu, dass diese beiden Länder erst 2007 Mitglieder
werden durften.
Mit den Verträgen von Nizza (2001) und Lissabon
(2009) hat die Union auf den großen Zuwachs an Mit-
gliedern und die Kohäsionsprobleme reagiert. Sie regeln
unter anderem eine deutlich stärkere Position des Euro-
päischen Parlaments bei Gesetzgebungsverfahren, die
Stimmverteilung und Stimmgewichtung im Europä-
ischen Rat, um die Effizienz mit dem Mittel von Mehr-
heitsentscheidungen zu erhöhen.
Susanne Heeg
Seit dem Startpunkt der europäischen Integration im
Jahr 1951 mit der Gründung der Europäische Gemein-
schaft für Kohle und Stahl erfuhr die Europäische Union
eine Vertiefung ihrer Kompetenzen und eine räumliche
Expansion durch eine stetige Aufnahme von neuen Mit-
gliedsländern. Von vormals sechs Ländern erweiterte
sich die Europäische Union auf 27 Mitgliedsländer im
Jahr 2007 (Abb. 3.30). Das weiterhin bestehende Inte-
resse vieler Länder am Beitritt weist die Europäische
Union als eine Erfolgsgeschichte aus, die unter anderem
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