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Exkurs 1.4
Die Mythen: Wohin der Stier Europa trug
„Der Mythos erzählt, dass Europa, die Tochter des phönizi-
schen Königs Agenor mit ihren Gefährtinnen am Strand des
Mittelmeers sich vergnügt habe. Zeus verliebte sich in das
schöne Mädchen und beschloss, sie zu entführen. Er nahm
die Gestalt eines weißen Stiers an, der dem Meer entstieg
und sich Europa näherte. Das Mädchen streichelte das
überaus schöne, zutrauliche Tier und fand sich schließlich
bereit, auf dessen Rücken zu klettern. Darauf erhob sich der
Stier und stürmte ins Meer, das er, mit Europa auf dem
Rücken, durchquerte. Zeus entführte Europa nach Kreta,
wo er sich ihr in seiner göttlichen Gestalt zu erkennen gab
und mit ihr drei Söhne zeugte: Minos, Rhadamanthys und
Sarpedon. Minos wurde König von Kreta. Die Archäologie
benannte nach Minos eine entscheidende mittelmeerische
Kulturepoche: die minoische. In ihr begegneten sich Okzi-
dent und Orient nicht nur, sondern verschmolzen zu einer
neuen, kulturschöpferischen Einheit. Mit anderen, nüchter-
nen Worten: Der Mythos erzählt die mittelmeerische Sage
von der Entstehung des Abendlandes. Denn von Kreta zün-
dete sozusagen der hellenische Mittelmeer-Funke, dem die
Idee Europas ihren Ursprung und ihre Dreijahrtausendkraft
verdankt“ (Friedrich 1991).
Eine allegorische Darstellung der Kontinente schuf Gio-
vanni Battista Tiepolo (auch Giambattista Tiepolo, 1696-
1770), einer der bedeutendsten venezianischen Maler des
ausklingenden Barock und des Rokoko in der Würzburger
Residenz. Im Treppenhaus zeigen die Fresken die vier Erd-
teile (ohne Australien). Der Würzburger Kunsthistoriker
Prof. Dr. Stefan Kummer interpretiert das Bild so: „Während
der junge Kontinent Amerika noch völlig unzivilisiert ist und
die alten Kulturen Asiens und Afrikas sich erschöpft haben,
präsentiert sich Europa als Hort der Künste und der wis-
senschaftlichen Studien.“ So wird Amerika wild und vital
dargestellt: Eine barbusige Indianerin sitzt mit buntem
Federschmuck auf dem Kopf, auf einem riesigen Krokodil
und ruft zur Jagd. Um sie herum eine tanzende, offenbar
blutgierige Gesellschaft, abgeschlagene Köpfe weißer
Männer zu ihren Füßen. Inmitten eines Markttreibens liegt
träge die nackte Africa auf einem Dromedar, umgeben von
Schwarzen, Orientalen und Europäern. Die Asia reitet be-
kleidet auf einem prächtig geschmückten Elefanten, auch
sie ist Mittelpunkt einer wildbewegten Szenerie, mit Hin-
weisen auf Asien als Geburtsstätte von Schrift und Wissen-
schaft.
Abb. 1 Auschnitt aus dem Gemälde „Die Entführung der
Europa“ von Gustave Moreau, 1869 (Foto: Erich Lessing/
akg-images).
Abb. 2 Fresko der Erdteile von Giovanni Battista Tiepolo -
in der Mitte Europa (Foto: Welleschik/Wikipedia).
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