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Exkurs 3.4
Religiöse Vielfalt in Europa
Reinhard Henkel
Bis in das vergangene Jahrhundert hinein war Europa reli-
giös recht klar dreigeteilt in einen protestantischen (bzw.
anglikanischen) Norden, einen römisch-katholischen Süden
und einen orthodoxen Osten. Dieses Muster ist auch heute
noch in der räumlichen Verteilung der großen Religionsge-
meinschaften erkennbar (Abb. 1). Nach der Anerkennung
des Christentums als Staatsreligion des Römischen Reichs
im vierten Jahrhundert n. Chr. konnte sich diese Religion bis
zum 11. Jahrhundert in ganz Europa durchsetzen und sich
von hier aus auch später durch die Missionierung in alle
Welt verbreiten. Aber das Christentum bzw. seine organisa-
torische Form, die Kirche, spaltete sich, nicht zuletzt durch
das immer wieder spannungsreiche Verhältnis zur Politik
bzw. zu den Staaten. Die endgültige Trennung zwischen der
Ostkirche mit dem Zentrum in Byzanz/Konstantinopel und
der römischen Westkirche erfolgte 1054. Während sich die
orthodoxen Kirchen als dominierende Nationalkirchen in
Griechenland, Zypern, Bulgarien, Rumänien, Serbien, Ma-
zedonien, Russland, Weißrussland, Moldavien und der
Ukraine sowie als Minderheitenkirchen in weiteren Staaten
wie Estland, Lettland und Albanien ausbildeten, blieb die
römisch-katholische Kirche eine einheitliche Weltkirche mit
dem Papst an ihrer Spitze. Sie dominiert nicht nur in den
romanischen Ländern Süd- und Westeuropas, sondern auch
in den slawischsprachigen Staaten Ostmitteleuropas
(Polen, Tschechien, Slowakei, Slowenien und Kroatien)
sowie in Irland, Ungarn und Litauen. Die von Mitteleuropa
ausgehende Reformation resultierte in der Entstehung
lutherischer, reformierter und anglikanischer Kirchen.
Diese konnten sich jedoch nur in Teilen Mitteleuropas sowie
in Großbritannien und Skandinavien als Mehrheitskirchen
entwickeln, da die Gegenreformation in Teilen Mittel- und
Südosteuropas, der Alpenländer sowie in Frankreich und
Polen erfolgreich war. Der Islam wurde schon im Spät-
mittelalter durch das Osmanische Reich auf dem Balkan
eingeführt, während die islamische Durchdringung der Ibe-
rischen Halbinsel in der gleichen Zeit durch die Reconquista
abgewehrt wurde. Zu ihm bekennen sich heute weitgehend
die Albaner sowohl in Albanien als auch in Serbien, im
Kosovo und in Mazedonien, die Mehrheit der Bosnier und
die Türken und Pomaken in Bulgarien, weiterhin einige
Minderheitenvölker in der Russischen Föderation wie die
Baschkiren, Tataren und Tschetschenen.
Fast alle europäische Staaten weisen heute eine deut-
lich dominierende Religion bzw. Konfession auf. Lediglich
Deutschland und seine Nachbarländer Schweiz und die
Niederlande sind multikonfessionelle Staaten, in denen der
Anteil der Katholiken und der Protestanten etwa gleich groß
ist. Hier haben sich nach langen und heftigen Auseinander-
setzungen politisch und sozial tolerante Formen des
Zusammenlebens entwickelt, während in einigen anderen
Ländern den jeweiligen Minderheitsreligionen bzw. -konfes-
sionen gleiche Rechte vorenthalten werden. In einigen Staa-
ten Südosteuropas mit ebenfalls gemischt-konfessioneller
Bevölkerung (z. B. Bosnien-Herzegowina, Mazedonien und
Zypern) gab es in den letzten Jahrzehnten militärische Kon-
flikte, die aber nicht als Religionskriege bezeichnet werden
können. Vielmehr ist hier die enge Verquickung zwischen
nationaler und religiöser Zugehörigkeit der Grund, dass sich
die Religion in diesen Konflikten instrumentalisieren ließ.
Zwei Entwicklungen der letzten Jahrzehnte haben die
historischen konfessionellen Strukturen grundlegend ver-
ändert und zu einer verstärkten Pluralisierung der religiö-
sen Landschaft geführt: Der Prozess, der häufig mit dem
etwas vagen Begriff „Säkularisierung“ bezeichnet wird, hat
die Bindungen vieler Menschen zur Religion allgemein und
zu den Religionsgemeinschaften insbesondere deutlich
schwächer werden lassen. Da konfessionslose Eltern in der
Regel ihre Kinder nicht taufen lassen, nimmt der Anteil der
Konfessionslosen nach ein oder zwei Generationen rapide
zu. Die Nichtreligiösen bilden in den Niederlanden, in Est-
land, Lettland und Tschechien mittlerweile die größte „Reli-
gionsgemeinschaft“. Aber auch in der Ukraine, in Weißruss-
land, Großbritannien, Frankreich und Deutschland beträgt
ihr Anteil heute mehr als 20 Prozent. Es ist hierbei jedoch
zu berücksichtigen, dass die entsprechenden Daten nicht
sehr zuverlässig sind. Insbesondere in Osteuropa ist nach
dem Zusammenbruch des Kommunismus noch nicht klar,
wie viele Menschen sich noch oder wieder als Christen ver-
stehen. Aber auch in West- und Mitteleuropa ist es sehr
schwer, die verschiedenen Aspekte von „Religiosität“ (for-
male Zugehörigkeit, persönlicher Glaube und religiöse Pra-
xis) zu quantifizieren und vor allem in Übereinstimmung zu
bringen.
Die zweite zur religiösen Pluralisierung der Gesellschaf-
ten führende Entwicklung ist die Zuwanderung überwie-
gend aus dem Mittelmeerraum, aber auch aus Osteuropa
nach West-, Nord- und Mitteleuropa. Sie brachte einerseits
größere muslimische Minderheiten nicht nur nach Deutsch-
land, sondern auch nach Frankreich, Belgien, Italien, Groß-
britannien (hier vor allem aus dem indischen Subkontinent),
in die Niederlande, nach Skandinavien und in die Schweiz.
Andererseits kamen auch viele Migranten mit christlichem
Hintergrund (katholische aus Südeuropa und orthodoxe aus
Osteuropa) in überwiegend protestantisch geprägte Staa-
ten West- und Nordeuropas. Die Integration der Letzteren in
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