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Exkurs 3.2
Spanien - Nationalstaat oder Staat von Nationen
Trotz der Persistenz der Außengrenzen des spanischen
Staates auf der Iberischen Halbinsel seit dem Pyrenäenfrie-
den von 1659 blieb der Prozess des nation-buildings schwä-
cher als in anderen europäischen Staaten. Das politische
System im 19. und frühen 20. Jahrhundert war, im Span-
nungsfeld zwischen konservativen und liberalen Kräften,
den sogenannten Dos Españas, instabil und die kurzlebigen
Regierungen konnten das Zusammenwachsen des Staates
nicht forcieren. Eine Dezentralisierung der Verwaltung in
rund 50 provincias erfolgte erst 1833 und konnte die
Bedeutung der historischen Regionen als Referenz regiona-
ler Identitätsgefühle nicht mindern. Das öffentliche Schul-
wesen war insgesamt nur wenig entwickelt (Bernecker
2003), sodass ein Großteil der Bevölkerung die wichtigste
nationale Sozialisationsinstitution nicht durchlief.
Spanien galt vielen Intellektuellen des späten 19. Jahr-
hunderts als wirtschaftlich, wissenschaftlich und politisch
unmodern. Als Fanal galt der Verlust der letzten Kolonien im
spanisch-amerikanischen Krieg 1898. Diese Entwicklungen
führten zu einem Mangel an Vertrauen in den spanischen
Staat und kumulierten im Zusammenspiel mit der kulturel-
len Erfindung der Region in einer Politisierung der zunächst
nur kulturellen regionalen Identitäten. Da während der kur-
zen Zweiten Republik (1931-36) eine Dezentralisierung des
spanischen Staates eingeleitet wurde und die Diktaturen
unter Primo de Rivera (1923-30) und besonders unter
Franco (1939-75) den mittlerweile populären Regiona-
lismus unterdrückten, wurde der Regionalismus bzw. peri-
phere Nationalismus zur Sache der Demokraten und rückte
politisch nach links.
Nach dem Bürgerkrieg (1936-39) nahmen die faschisti-
schen Sieger Rache an Republikanern und regionalen Natio-
nalisten und trieben viele von ihnen ins Ausland. Die
Repression äußerte sich im Alltag, besonders im unter
Generalverdacht stehenden Baskenland, in Form zahlloser
Kontrollpunkte und Durchsuchungen durch Sicherheits-
kräfte, die jeweils aus anderen Gegenden Spaniens stamm-
ten. Es wurde unter anderem in der Geschichtsschreibung
- durch die Konzentration auf einigende Momente wie die
Regierungszeit der Reyes Católicos, deren Herrschaftsbe-
reich dem heutigen spanischen Territorium gleicht, oder
dem „Unabhängigkeitskrieg“ gegen die Truppen Napoleons
- ein monolithisches Spanien propagiert. Spanische Mün-
zen trugen das auf Spanien bezogene Motto „Einig Groß
und Frei“.
Nach dem Tod Francos wurde im Rahmen eines fried-
lichen Übergangs zur Demokratie - der transición - eine
neue Verfassung verabschiedet, die eine Dezentralisierung
Spaniens beinhaltete. Zentral war die Gründung der den
deutschen Bundesländern ähnlichen comunidades autóno-
mas, die sich an historischen Regionen orientierten. Dies
geschah ohne großen Widerstand, da der zentralistisch-
spanische Nationalismus durch die Diktatur diskreditiert
war. Trotzdem ist die Diskussion um die Verfasstheit des
spanischen Staates bis heute nicht abgeschlossen. Beson-
ders die etablierteren Nationalismen (in Katalonien oder
dem Baskenland) fordern für ihre Gemeinschaften zuneh-
mend Sonderrechte. Deshalb verwenden auch andere
comunidades in ihren Verfassungen, den Estatutos de Auto-
nomía, die Begriffe Nation, Nationalität oder nationale Rea-
lität. Für Spanien lässt sich also nicht das vielbeschworene
Ende der Nation beobachten, sondern vielmehr ihre Plurali-
sierung.
Beispiel Südtirol: ein befriedeter Konflikt
Die Ursachen für den Südtirolkonflikt, der das kleine
Land südlich des Brenners Anfang der 1960er-Jahre an
den Rand des Bürgerkriegs getrieben hatte, gehen auf
das Ende des Ersten Weltkriegs zurück. 1919 waren alle
Gebiete Tirols südlich des Brenners im Friedensvertrag
von St. Germain Italien zugesprochen worden, als Dank
dafür, dass Italien auf Seiten der Entente gegen die
Mittelmächte Deutschland und Österreich in den Krieg
gezogen war. Die Siegermächte ignorierten dabei das
von ihnen proklamierte Selbstbestimmungsrecht, denn
allen Forderungen der Italiener bezüglich einer „natür-
lichen Alpengrenze“ zum Trotz lebten zum damaligen
Hans Gebhardt
Südtirol ist eine der früheren Krisenregionen Europas,
die vor allem im deutschsprachigen Raum im Mittel-
punkt des Interesses stand. Das Land zwischen Brenner
und Salurner Klause gilt heute vielfach als Musterbei-
spiel für Ausdauer und Selbstbehauptungswillen einer
regionalen Minderheit gegen staatliche Assimilations-
bestrebungen, Unterdrückungsversuche und Zentra-
lismus.
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