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Weißrussland lösten sich aus dem sowjetischen Staaten-
verband, die baltischen Staaten erlangten ihre Unab-
hängigkeit, Moldawien entstand neu als Staat. Der Viel-
völkerstaat Jugoslawien zerfiel in den 1990er-Jahren in
einem blutigen Bürgerkrieg in eine Reihe neuer, selbst-
ständiger Nationalstaaten (Abb. 3.18).
Französischen Revolution hervor; er wurde im 19. Jahr-
hundert in vielen anderen Völkern und auch in
Deutschland entwickelt, zunächst in bestimmten bür-
gerlichen Gruppen, während die konservative Idee erst
später nationalistisches Gedankengut aufnahm […].
Seit dem Ersten Weltkrieg fassten in vielen Ländern aus-
gesprochen nationalistische Richtungen Fuß und hatten
zeitweise starken Anhang, häufig in Verbindung mit
Imperialismus und Militarismus“ (dtv-Lexikon 1973).
Das im Frankreich des 18. Jahrhunderts entwickelte
Konzept des Nationalstaats konnte zunächst durchaus in
einem positiven Sinne als revolutionär gelten. Es begriff
sich als Alternative zum herrschenden Ständestaat; der
Nationalstaatsgedanke wurde zum wichtigsten Prinzip
staatlicher Neubildung auf dem Boden der Territorien
alter Reiche. Heute hingegen fördert Nationalismus „in
vielen Fällen eine Politik, die Angehörige der eigenen
,Nation' privilegiert, die Lebensbedingungen anderer
ethnischer oder religiöser Gruppen dagegen erheblich
beeinträchtigt und in der Konsequenz häufig zur Ver-
treibung und Flucht führt“ (Opitz 1988).
Neuer Nationalismus vor allem in der ehemals kom-
munistischen Staatenwelt hat inzwischen auch die Idee
des „Regionalismus in Europa“ verdüstert. Der Gedanke
einer endogenen, eigenbestimmten Entwicklung gegen-
über einem oft überbordenden, zentralistischen Natio-
nalstaat hatte noch in den 1980er-Jahren viel Charme.
Entsprechend wohlwollend wurden in der Öffentlich-
keit entsprechende Bewegungen, sei es in Katalonien, im
Baskenland, in der Bretagne, auf Korsika oder wo auch
immer in West- und Mitteleuropa, nicht selten gesehen.
Geradezu entsetzt reagierte die Weltöffentlichkeit aller-
dings dann auf das Auseinanderbrechen Jugoslawiens
und die dortige Form des Austragens innerstaatlicher
Konflikte.
Regionalkonflikte sind in der Regel Konflikte zwi-
schen einer Majorität und einer Minorität. Unter
„Regionalismus“ lässt sich mit Ante (1981) ein Prozess
verstehen, der auf die Realisierung politischer Vorstel-
lungen mit territorialem Bezug durch Minderheiten
abzielt. Unter Minoritäten werden dabei nicht jene
Gruppen verstanden, die nur zeitweilig einer politischen
Minderheit angehören, aber durch Wahl oder gegebe-
nenfalls durch Umsturz prinzipiell die Möglichkeit
haben, an der Staatsführung zu partizipieren. Gemeint
sind vielmehr im weitesten Sinne ethnisch bestimmte
Gruppen, also Minderheiten auf Dauer. Insgesamt gehö-
ren etwa 100 Millionen Europäer in 45 Ländern Min-
derheiten und Völkern ohne Staaten an. Angaben über
die Zahl der Minderheitenvölker schwanken zwischen
130 und 200 (Ludwig 1995).
Die Existenz ethnischer Differenzierung und ethni-
scher Minderheiten in einem System sagt zunächst noch
nichts über die Art der zwischen den verschiedenen
Gruppen bestehenden Beziehungen. Die Spannweite
Ausgewählte Konflikträume in Europa
Insbesondere die Re-Territorialisierungen des 20. Jahr-
hunderts in Europa waren von mehreren Vertreibungs-
und Flüchtlingswellen bislang ungekannten Ausmaßes
begleitet. Es wird geschätzt, dass die Folgen der Frie-
densverträge nach dem Ersten Weltkrieg in der Zwi-
schenkriegszeit rund 9 Millionen Menschen ihrer Hei-
mat beraubt haben. Das nur 12 Jahre andauernde Dritte
Reich verursachte neben der Vertreibung und Ermor-
dung von rund 6 Millionen Juden zusätzlich die zwangs-
weise Umsiedlung von rund 7 Millionen Menschen, vor
allem aus Osteuropa, sowie die Verschleppung von
Zwangsarbeitern in die Kriegsindustrie des Deutschen
Reichs. Der Zusammenbruch Deutschlands und die Tei-
lung Europas nach dem Zweiten Weltkrieg haben inner-
halb weniger Jahre wiederum geschätzte 30 Millionen
Menschen zur Zwangsmigration gezwungen.
Daran bemessen waren die seither vergangenen sechs
Jahrzehnte eine lange Phase politischer und wirtschaft-
licher Stabilität, allerdings bis 1990 um des Preises der
sowjetischen Herrschaft über die Staaten Osteuropas.
Verglichen mit den innenpolitischen und zwischenstaat-
lichen Konflikten im shatterbelt dieser Erde, im Vorderen
Orient und in Zentralafrika, ist Europa heute eine Insel
des Friedens. Gleichwohl hat sich auch hier seit 1990 das
Bild der politischen Landschaft dramatischer gewandelt,
als es die kühnsten Prognosen je hätten erahnen lassen.
Alte Staaten sind auseinandergebrochen, neue haben
sich herausgebildet. Mit der endgültigen Auflösung der
Sowjetunion sah das Jahr 1990 einen der spektakulärs-
ten Staatsuntergänge der Neuzeit. Schließlich wüteten
während der gesamten 1990er-Jahre blutige Konflikte
im ehemaligen Jugoslawien, die sich wie eine nicht
enden wollende Welle von Nord nach Süd durch dessen
ehemaliges Staatsgebiet zogen, vom noch vergleichs-
weise friedlich selbstständig gewordenen Slowenien im
Norden über die Auseinandersetzungen in Kroatien und
der Vojvodina bis hin zu den entsetzlichen Mordaktio-
nen in Bosnien-Herzegowina und dem kaum lösbaren
Konflikt im Kosovo.
Seit dem 19. Jahrhundert hatte sich der Nationa-
lismus als wesentliche Triebkraft politisch-territorialer
Neuordnung in Europa erwiesen. Nationalismus kann
definiert werden als „übersteigerte, intolerante Erschei-
nungsform des Nationalgedankens und des Nationalbe-
wusstseins […]. Dieser Nationalismus trat zuerst in der
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