Geography Reference
In-Depth Information
Mit der Kolonialisierung Amerikas gewann Europa
ein politisches Übergewicht in der Welt, das letztlich bis
zum Vorabend des Ersten Weltkriegs andauerte. Der
Entdeckung Amerikas folgte die Landnahme durch die
größte Auswanderungswelle, die der alte Kontinent bis
dahin in Gang gesetzt hatte. Insbesondere das bevölke-
rungsreiche Spanien eröffnete in der Conquista ein
schier grenzenloses Betätigungsfeld. Zu Millionen
strömten Spanier nach Amerika. Später kopierte Frank-
reich den spanischen Typ der Flächen- und Siedlungs-
kolonien, Holland eher den portugiesischen Typ der
Handels- und Seestützpunkte. Als Haupterbe älterer
Kolonialpioniere schuf England seit Anfang des 18. Jahr-
hunderts ein neues internationales Welthandelssystem.
Deutsche Reich, nochmals für ein Jahrhundert die
Zementierung monarchistischer Staatsgebilde erreichte,
wurde die politische Landkarte nicht mehr auf den
alten Zustand zurückgeführt. Die Napoleonische Flur-
bereinigung der zahllosen Kleinstaaten Mitteleuropas
und die Säkularisierung des Kirchenbesitzes hatten Be-
stand.
Seit Ende des 18. Jahrhunderts breitete sich von
Nordengland und Südschottland kommend die Indus-
trielle Revolution über den Kanal auf dem Kontinent
aus. Leitlinien der Ausdehnung waren Kohlefelder und
Eisenvorkommen. Belgien, Holland, Nordost- und Ost-
frankreich, das Ruhr- und Saargebiet, Sachsen, Böhmen
und Oberschlesien waren wichtige Etappen. Die macht-
politischen Auswirkungen der Industriellen Revolution
auf das Gleichgewicht Europas waren enorm. England
katapultierte sich aus seiner geographischen Randlage
ins Zentrum des modernen Weltsystems und überflü-
gelte rasch den Konkurrenten Frankreich. Russland ver-
suchte in immer neuen Anläufen, seinen jahrhunderte-
alten Rückstand gegenüber dem Westen aufzuholen.
Deutschland war noch immer in viele Kleinstaaten ge-
teilt; erst die Zollunion der 1830er-Jahre milderte we-
nigstens die wirtschaftlichen Folgen der territorialen
Zersplitterung.
Mit der Industrialisierung stieg das liberale Bürger-
tum zu sozial und politisch führenden Positionen auf.
Als neue Unterschicht bildete sich das Industrieproleta-
riat heraus, dessen Führung meist bürgerliche Intellek-
tuelle wie Karl Marx und Friedrich Engels beanspruch-
ten. 1848 erschien das „Kommunistische Manifest“
(Abb. 3.15).
Vorangetrieben durch die Industrielle Revolution
setzte, vor allem im letzten Viertel des 19. Jahrhunderts,
mit Macht die imperialistische Expansion der europä-
ischen Großmächte in Außereuropa ein. Dem Abschluss
der Eroberung Indiens durch England 1856 folgte der
Bau des Suez-Kanals, der die kürzeste Seeverbindung
zwischen Europa und Asien darstellte und der kolonia-
len Aufteilung Afrikas neue Impulse verlieh. Europa
stand um 1900 auf dem Höhepunkt seiner kollektiven
Weltherrschaft. Russlands kontinentale Expansion in
Zentral- und Ostasien ergänzte das erste tatsächlich glo-
bale Weltsystem.
Die „Napoleonische Flurbereinigung“
und die Reorganisation territorialer
Herrschaftsstrukturen im
19. Jahrhundert
Trotz dieser machtvollen Expansion einzelner europä-
ischer Staaten nach Übersee bildete Europa am Ende des
„alten Reiches“ (um 1800) einen bunten Flickenteppich
verschiedenster, oft politisch wenig bedeutungsvoller
Herrschaften. Das Heilige Römische Reich Deutscher
Nation lag in Agonie. Zwei Faktoren waren es, die ab
dem Ende des 18. Jahrhunderts den Aufstieg des Halb-
kontinents zur beherrschenden wirtschaftlichen und
politischen Macht der Welt bestimmten: auf politischem
Gebiet die Französische Revolution, deren Folgewirkun-
gen auf juristischem wie innenpolitischem Feld alle
europäischen Staaten erfasste, sowie die Industrielle Re-
volution, die ihren Ausgang von Großbritannien nahm,
aber im 19. Jahrhundert die wirtschaftliche Dynamik
aller europäischen Staaten bestimmte.
Die Französische Revolution 1789 setzte „an die Stelle
des gesellschaftlich weitgehend funktionslos und damit
parasitär gewordenen Adels […] das Bürgertum mit der
Energie des welthistorischen Aufsteigers“ (Geiss 1993).
Vor allem auf juristischem und staatsorganisatorischem
Gebiet wirkte in der Folgezeit Frankreich beispielgebend
für die europäischen Staaten. Der Code Civil, von Napo-
leon I. 1804 erlassen, nahm die wesentlichen Errungen-
schaften der Revolution auf und wurde zur Grundlage
des Rechts der bürgerlichen Gesellschaften Europas.
Politisch-geographisch brachten die Revolutions-
kriege sowie die anschließenden Napoleonischen Kriege
(1792 - 1815) die Landkarte Europas gründlich durch-
einander. Napoleon unterwarf unter dem Banner der
Grande Nation zeitweise den gesamten Kontinent, aus-
genommen Skandinavien und Großbritannien.
Auch wenn der Wiener Kongress 1814/15 in vielem
die Restauration des Vorkriegszustands anstrebte und,
zumindest für Österreich-Ungarn und das spätere
Neue Nationalstaaten nach
dem Ersten Weltkrieg
Die europäische Staatenwelt wurde nach dem Ersten
Weltkrieg in den sogenannten Pariser Vorortverträgen
neu geordnet. Die Bezeichnung rührt von dem Umstand
her, dass Verträge mit den einzelnen unterlegenen
Mittelmächten (Deutsches Reich, Österreich-Ungarn,
Bulgarien, Osmanisches Reich) an verschiedenen Orten
Search WWH ::




Custom Search