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Auseinandersetzungen um Macht
und Raum von der Römerzeit bis
zur Gegenwart
Zeit - Ökonomie zu nennen. Gerade die semantische
Unschärfe der Kategorie „Kultur“ eröffnet ein umfas-
sendes Feld für die Konstruktion gegensätzlicher geo-
politischer Leitbilder unterschiedlicher europapoliti-
scher Akteure.
Europa hat seine Wurzeln im römischen Weltreich. Es
umfasste größere Teile des damals in Europa bekannten
Erdkreises, hatte ein einheitliches römisches Recht und
die römischen Legionen schützten die zivilisierte Welt
vor den Barbaren jenseits der Grenzen. Im „Heiligen
Römischen Reich Deutscher Nation“ lebte diese Idee
einer vormodernen Form der Raumorganisation weiter,
einer dezentralen Organisationsform mit selbstständi-
gen Fürstentümern und Reichsstädten. Einen wesent-
lichen Einbruch in Südwesteuropa verursachte im
7. und 8. Jahrhundert die Islamisierung der Iberischen
Halbinsel, in der frühen Neuzeit die Ausdehnung des
islamischen Osmanischen Reiches mit den spezifischen
Herrschaftsstrukturen. Eine tief greifende Veränderung
brachte die Französische Revolution 1789 mit der erwa-
chenden Idee von Nationalstaaten, die im 19. Jahrhun-
dert in voller Blüte stand und insbesondere nach dem
Ersten Weltkrieg eine Reihe neuer europäischer Natio-
nalstaaten entstehen ließ. Bereits die „Napoleonische
Flurbereinigung“ Anfang des 19. Jahrhunderts hatte die
kleinräumige Territorialstruktur in Mitteleuropa aufge-
brochen. Re-Territorialisierungen fanden schließlich
auch nach dem Zweiten Weltkrieg sowie nach dem
Zusammenbruch der Sowjetunion 1990 statt.
Die poststrukturalistische Politische Geographie weist
in diesem Kontext eindringlich darauf hin, dass es im
Widerstreit der Diskurspositionen konzeptionell gese-
hen keine richtigen und falschen Argumentationen gibt.
Der Rückgriff auf geographisch-geopolitische Reprä-
sentationsweisen aus der Schublade „Lage, Territorien
und Grenzen“ kann stattdessen aus einer solchen Per-
spektive als hegemoniale Form der Plausibilisierung, als
eine machtvolle Möglichkeit, politische Positionierun-
gen zu begründen, angesehen werden. Eine solche Her-
angehensweise ist anti-essenzialistisch und schärft den
Blick für den normativen Charakter konkurrierender
Europadiskurse, die eigenen Vorstellungen eingeschlos-
sen. Europa hat - so muss man sagen - genau wie die EU
und die Kontroversen um ihre Gestalt, ihre Grenzen und
ihre innere Verfasstheit, keinen prä-diskursiven Ort, es
handelt sich vielmehr um ein innerdiskursives Phäno-
men. Das macht Konzepte wie diese nicht weniger rele-
vant und nicht weniger machtvoll, denn Europaleitbil-
der und Regionalisierungen können aus dieser Sicht als
eine hegemoniale Figur im Diskurs angesehen werden,
als eine Form der Raumkonstruktion, mit der immer
wieder und im Angesicht der „europäischen“ Finanz-
und Schuldenkrise beinahe täglich Politik gemacht wird.
Römerzeit und Völkerwanderung
Europäische Herrschafts-
strukturen und territoriale
Konflikte im Laufe der
Geschichte
Die früheste für die Raumentwicklung Europas bis in
die Gegenwart bedeutsame Staatenbildung und Raum-
organisation verdanken wir, abgesehen von der griechi-
schen Welt, dem Römischen Reich. Auf dem Höhepunkt
der römischen Macht im 1. und 2. nachchristlichen
Jahrhundert bestand erstmals eine bis dahin unbe-
kannte einheitliche Staats- und Wirtschaftsorganisation,
die neben dem gesamten Mittelmeerraum das heutige
Frankreich, das südliche England bis zum Hadrianswall
und den Westen und Südwesten Deutschlands (diesseits
des Limes) umfasste.
Mit dem Zerfall des Römischen Reichs in einen ost-
und weströmischen Teil mit der Hauptstadt Trier (Abb.
3.9) und der Völkerwanderung, einer erstrangigen Zäsur
in der Kulturlandschaftsentwicklung Mitteleuropas, ver-
schob sich der Schwerpunkt politischer Machtbildung
weiter nach Norden. Das Machtvakuum im römisch be-
setzten Mittel- und Westeuropa wurde zum Teil durch
die Landnahme verschiedener germanischer Stämme
gefüllt, im Nordwesten durch die Franken, im Süd-
westen durch die Alemannen. Der Westwanderung ger-
manischer Stammesverbände entsprach das Westwärts-
Hans Gebhardt
Der folgende Abschnitt kann und will keinen Abriss
von Herrschaft und Territorialgeschichte in Europa
geben. Ein Geographiebuch ist kein Geschichtsbuch.
Ähnlich wie im vorangegangenen Teilkapitel „Die ge-
sellschaftliche Konstruktion politischer Räume und geo-
politische Leitbilder in Europa“ sollen hier in aller
Kürze Raumkonstruktionen und wesentliche Umbrü-
che der Raumorganisation seit der Römerzeit in den
Blick genommen werden, wobei der Schwerpunkt auf
Mitteleuropa liegt.
 
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