Geography Reference
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Geopolitische Leitbilder nach dem
Ende des Kalten Krieges
nehmen und die als praxisrelevante Diskurse in die
entsprechenden politischen Debatten und Praktiken
hineinwirken. Dabei offenbart sich beim genaueren
Hinsehen eine große inhaltliche Breite und Heteroge-
nität. Dies gilt sowohl bezogen auf neue Ansätze zur
Abgrenzung Europas im Allgemeinen als auch hinsicht-
lich spezifischer neuralgischer Punkte der Debatte (z. B.
die geographische Reichweite Europas, die zukünftigen
Grenzen der EU inklusive möglicher EU-Erweiterungs-
szenarien Richtung Ost-Europa). Ein weiteres Feld dis-
kursiver Verortungen betrifft Fragen der inneren Gliede-
rung und Verfasstheit der EU.
Dieser Aspekt tritt besonders augenfällig im Rahmen
der kontroversen Diskussionen um Gestalt, Größe und
Erweiterung der Europäischen Union hervor. Eine Ana-
lyse entsprechender Debatten und Leitfadeninterviews
mit Europapolitikern, die im Rahmen eines DFG-Pro-
jektes geführt wurden (Reuber et al. 2005, Schott 2005),
macht deutlich, wie dabei neben politischen und histo-
rischen Argumentationen auch eine Reihe kultur-räum-
licher, natur-räumlicher und geo- bzw. lagedeterministi-
scher Denkfiguren am Werk sind, die sich - je nach
Positionierung und Kontext der verschiedenen Leitbil-
der und Regionalisierungen - auf unterschiedliche
Weise miteinander kombinieren.
Die historisch-kulturelle Argumentationslogik dient
im Rückgriff auf „die Geschichte“ und „die gemeinsa-
men europäischen Werte“ vor allem der Regelung von
Ein- und Ausschluss und wird inhaltlich je nach Position
und regionalem Kontext sehr unterschiedlich ausgefüllt
(vgl. z. B. die kontroversen Wertedebatten in der Diskus-
sion um eine mögliche EU-Integration der Türkei).
Die politisch-integrative Argumentationslogik zielt
auf die Stärkung einer föderalistischen Verfasstheit der
EU. Ihre pointiertere Form findet sie in der Konsoli-
dations- und Vertiefungslogik, die ganz dezidiert die
Festigung und innere Stärkung der EU fordert, um sie
sowohl nach innen als auch nach außen (d. h. als
Machtfaktor im Konzert der globalen Politik) zu stär-
ken. In diesem Verweiszusammenhang findet sich häu-
fig auch die latent lagedeterministische Argumenta-
tionsfigur der Überdehnung der EU, die im Falle einer
Erweiterung die Gefahr der Verschärfung der inneren
Heterogenität und Fragmentierung der Gemeinschaft
in Aussicht stellt.
Auch im engeren Kontext geopolitischer Diskurse
finden sich eine Reihe wiederkehrender argumentati-
ver Formen. Die Logik der balance of power beispiels-
weise zielt auf machtpolitische Teilhabe und themati-
siert die innerhalb der EU durch bestimmte Formen der
Erweiterung oder Vertiefung entstehenden Formen von
Macht-(un-)gleichgewichten unter den großen und
kleinen Staaten der Gemeinschaft. Sie geht häufig mit
der Argumentationslogik der Hegemoniefreiheit einher,
die die Sorge insbesondere kleinerer Staaten und mit-
Das Ende des Kalten Krieges hat auch die politischen
Geographien Europas nachhaltig verändert. „Gerade
hier, wo nach dem Zweiten Weltkrieg der ‚Eiserne Vor-
hang' eine Region mit einer langen gemeinsamen
Geschichte und kulturellen Identität getrennt hat, ging
mit dem Wegfall dieser handlungsträchtigen ‚Demarka-
tionslinie' weit mehr verloren als nur der Glaube an eine
quasi-stabile regionale Ordnung der politisch-territori-
alen Systeme: Europa wurde vielmehr zum Symbol für
eine neue Flexibilisierung, für eine Umdeutung der Geo-
graphien des Politischen im Zeichen der globalen Trans-
formation der Macht. Wo nicht länger die alten Macht-
blöcke den Rahmen der europäischen Gestalt und
politischen Orientierung bestimmten, stellte sich die
Frage nach dem, was politisch als Europa bezeichnet
werden konnte in einer neuen Dimension. Vorbei war
die Zeit, in der westliche Politiker stillschweigend Eu-
ropa mit der Europäischen Union (oder ihren Vorläufer-
institutionen) gleichsetzen konnten. Vorbei war damit
auch die Zeit, in der sich die westlich-demokratische
Staatengemeinschaft unwidersprochen als alleiniger
Gralshüter der europäisch-abendländischen Tradition
inszenieren durfte. Stattdessen kehrte mit dem ‚Ende der
Geschichte' (Fukuyama 1992) die Debatte um Gestalt
und Grenzen Europas als ‚Dauerbrenner' in die außen-
politische Arena zurück. Spätestens seit 1989 haben mit
den Auseinandersetzungen im Umfeld des auseinander
brechenden sowjetisch dominierten Machtblocks sowie
den damit einhergehenden Fragmentierungskämpfen
auch Krieg und Völkermord das über Dekaden relativ
friedliche Europa wieder erreicht. Ein neuer quasi-stabi-
ler Gleichgewichtszustand ist derzeit längst nicht in
Sicht. Die Reorganisation und Neukonsolidierung der
Machtverhältnisse führte zu einer deutlichen Erweite-
rung des territorialen Rahmens der Europäischen
Union, die ihren Einflussbereich in Richtung Osten und
Südosten ausdehnt“ (Reuber et al 2005). Die beiden
Osterweiterungen 2004 (Estland, Lettland, Litauen,
Polen, Tschechien, Slowakei, Ungarn, Slowenien, Malta
und Zypern) und 2007 (Rumänien und Bulgarien) bil-
deten die größte Expansion der Europäischen Union in
den letzten Jahrzehnten.
Im Spannungsfeld dieser Veränderungen und Debat-
ten, im politischen Balanceakt der EU zwischen dem
Wunsch einer zunehmenden Ausdehnung und einer
zunehmenden Integration, angesichts der vielfältigen
Verschiedenheiten und Probleme in alten und neuen
Beitrittsländern, in Ländern mit Kandidatenstatus und
in Ländern, die potenziell gern „dabei“ wären, fanden
und finden sich eine Reihe von geopolitischen Regio-
nalisierungen und Leitbildern, die auf Europa Bezug
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