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Abb. 3.6 Das Reichsparteitags-
gelände in Nürnberg spiegelt in
seiner gigantomanischen Dimension
und Architektur den Herrschaftsan-
spruch der Nationalsozialisten wider.
Es ist ein Stein gewordenes Zeugnis
des Willens, die geopolitische Ideologie
von „Volk und Raum“ in bilderstarken
Inszenierungen zu materialisieren und
sie im kollektiven Diskurs als hege-
moniale Repräsentation zu verankern
(Foto: Paul Reuber).
tationen wurden gestützt durch eine zeitgemäße Karto-
graphie. In Karten zur Bevölkerungsverteilung wird
unter der Überschrift „Überbevölkerung in Deutschland
- Menschenleere im Osten“ minutiös die Siedlungs-
dichte in Deutschland visualisiert und den deutlich
geringer bevölkerten Regionen Osteuropas gegenüber-
gestellt. Gleichzeitig legitimieren andere Karten, wie bei-
spielsweise die „Handkarte des deutschen Volks- und
Kulturbodens“ (Fischer 1926, zitiert nach Schultz 2008),
die vermeintliche Berechtigung einer kriegerischen
Expansion, indem sie bis hin zu den deutsch besiedelten
Gebieten in Russland darzulegen versuchen, wie viele
Regionen Osteuropas bereits „vom Deutschtum durch-
drungen“ seien und vor diesem Hintergrund eigentlich
„heim ins Reich“ geholt werden müssten. Dass man bei
solchen Unternehmungen nicht zimperlich vorgehen
dürfte, glaubte man ebenfalls den Gesetzen der Biologie
über das Zusammenleben der Organismen entnehmen
zu können. So war bereits 10 Jahre vor Ausbruch des an
Gräueln reichen Zweiten Weltkrieges in Deutschland zu
lesen, dass „bei dem unseligen Zusammenprallen töd-
lich verfeindeter Rassen […] die blutige Wildheit eines
raschen Vernichtungskrieges menschlicher, minder em-
pörend (sei) als jene falsche Milde der Trägheit“ (von
Treitschke 1929, zitiert nach Wolff-Poweska 2000).
Generell eignete sich nach Ende des Ersten Weltkriegs
die Begründungslogik der staatsorganizistisch angeleg-
ten Geopolitik sofort wieder, um in der auf die europä-
ischen Nachbarstaaten ausgerichteten Politik des Deut-
schen Reichs die Revision der Gebietsabtretungen zu
begründen. In Karten mit Überschriften wie „Deutsch-
lands Verstümmelung“ (Wolkersdorfer 2001b) wird in
Wort und Grafik gezeigt, wie der „deutsche Staatskör-
per“, einer verwundeten Amöbe gleich, auf allen Seiten
durch Gebietsabtretungen „verletzt“ wird. Detailliert
wird aufgelistet, welche wichtigen „Organe“ (in Form
von Bodenschätzen, Anbaugebieten für bestimmte Feld-
früchte etc.) dem deutschen Staatsorganismus durch die
Gebietsabtretungen verloren gehen (z. B. die Karte von
Geistbeck & Geistbeck 1932, abgedruckt in Schultz
2008). Hintergrund dieser Argumentationen war eine
weitere geopolitische Raumkonstruktion, die „deutsche
Mittellage“ in Europa, die ihre Legitimation ebenfalls
aus den lagedeterministisch angelegten Argumentatio-
nen der frühen Politischen Geographie bezog. Aus-
gehend von den als überragend empfundenen Bedro-
hungspotenzialen der Nachbarn Frankreich und Russ-
land zeigten beispielsweise Karten wie „Deutschlands
Einriegelung“ (abgedruckt in Wolkersdorfer 2001a),
dass das Deutsche Reich als „Landmacht“ nur an einer
Seite von „schützendem Meer“ begrenzt wird, und dass
an allen anderen Grenzen mehr oder weniger feindliche
Nachbarn lauern. In der Blut-und-Boden-Ideologie der
Nationalsozialisten sollte ein solcher geopolitischer Dis-
kurs zur Legitimationsgrundlage des größten Krieges
und der größten Gräueltaten werden, die das 20. Jahr-
hundert gesehen hat. „Ratzels Theorie war somit nicht
nur anschlussfähig an das klassische Konzept der Geo-
graphie, sondern auch an die Lebensraumideologie des
Dritten Reiches. Die Umorientierung auf die Rasse als
die entscheidende Macht der Geschichte ist bei ihm
selbst schon angelegt“ (Schultz 1998; vgl. auch Büchner
1998 oder Ó Tuathail et al. 1998/2006).
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