Geography Reference
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Adaptionen der geopolitischen Leitbilder
in den gesellschaftlichen politischen
Praktiken ihrer Zeit
Imperialismus und Kolonialismus als
europäische (Geo-)Politik
Ratzels Thesen waren Musik in den Ohren der politisch
Mächtigen in Europa in den Zeiten von Imperialismus
und Kolonialismus. Sein Leitbild lieferte eine diskursive
Logik, die „jeden Imperialismus und Expansionismus“
legitimiert (Wolkersdorfer 2001a), denn in seinem Welt-
bild erschien die Bildung von Kolonien völlig „natür-
lich“: „Das Land gibt die Anregung zur Kolonisation“
(Ratzel 1897). Auch Mackinders geopolitisches Leitbild
des Wettstreits zwischen Land- und Seemächten war in
diesem Sinne zutiefst situiert. Es lieferte dem Britischen
Empire einen weiteren „natürlichen“ Vorwand für seine
Kolonialpolitik und legitimierte insbesondere den sich
daraus ergebenden strategischen Einsatz von Krieg und
Annexion in denjenigen Regionen Europas und Asiens,
die sich zwischen den Land- und Seemächten als „Puf-
fer“ befanden.
Ratzels Staatendarwinismus oder Mackinders Land-
Seemächte-Vorstellungen bildeten eine machtvolle „na-
türliche“ Grundlage für die Großmachtphantasien der
damaligen Zeit. Mit solchen Vorstellungen ließen sich
Aufrüstung und Militarisierung ebenso begründen wie
die hemmungslose Ausbeutung der Gesellschaften und
Ressourcen in den Kolonien. Selbst die Gräueltaten und
Völkermorde dieser Zeit, von Davis (2001) für den Fall
des Britischen Empire treffend als „late victorian holo-
causts“ bezeichnet, erscheinen im Kontext insbesondere
der Ratzel'schen Thesen als quasi-natürlich vorgezeich-
net und vor diesem Hintergrund moralisch entschuld-
bar. „Das Gefühl der kulturellen Überlegenheit legiti-
mierte die Notwendigkeit, die weniger entwickelten
Völker zu kolonisieren, und das Streben nach einem
größeren Lebensraum. Dabei wirkten geistig-rassisti-
sche und anthropologische Elemente mit einer Art von
geographischem Determinismus zusammen, denn die
völkische Ideologie postulierte die Notwendigkeit einer
Harmonie zwischen der Einzelpersönlichkeit, dem Volk,
der Naturlandschaft und dem Lebensraum“ (Wolff-
Poweska 2000).
In diesem Sinne begleiteten in Deutschland die
„Rasse-und-Raum-Rhetorik“ und das aus ihr abgelei-
tete Expansionsmotiv bereits die Auseinandersetzungen
während des Ersten Weltkrieges - mit fatalen Folgen für
Europa: „Nicht nach fremden Wünschen und Zielen
führen wir diesen Krieg […], sondern darum, die deut-
sche Rasse und den deutschen Boden zu verteidigen und
um für unsere Kinder und Enkel neue Fluren und eine
Heimat zu gewinnen […], wo sie als Deutsche Wurzeln
schlagen und wachsen, pflügen und pflanzen werden“
(Hunkel 1916). Im Beispielzitat findet sich die Kom-
bination von Rasse und Boden ebenso wie das „natür-
liche“ Expansionsmotiv aus dem biopolitischen Reper-
toire der Ratzel'schen Konzeption. Solcherlei Argumen-
Die aus heutiger Sicht äußerst problematischen Konse-
quenzen dieser frühen geopolitischen Leitbilder sind
vielfach herausgearbeitet worden. Die Adaption der ent-
sprechenden Mensch-Raum-Logik fand sich in vielen
Staaten Europas wieder. Im damaligen Deutschen Reich
gingen die darin enthaltenen Biologismen gleichwohl
noch weiter als in anderen Fällen. Hier lieferte der geo-
politische Diskurs zentrale Argumentationslinien für
die kommenden, wechselvollen und ausgesprochen
dunklen Phasen der Geschichte. Dazu zählen:
die Legitimation nationalstaatlicher Großmachtpoli-
tiken in Europa, insbesondere der deutschen Expan-
sionsinteressen in den beiden Weltkriegen
die geopolitische „Naturalisierung“ von Imperia-
lismus, Flottenpolitik und Kolonisierung im Deut-
schen Reich
die diskursive Unterstützung des deutschen Revisio-
nismus nach den Gebietsabtretungen am Ende des
Ersten Weltkrieges
die Blut-und-Boden-Ideologie der Nationalsozialis-
ten inklusive des Rassenwahns, der ethnischen Säu-
berungen und des Völkermordes
Es ist im Rahmen dieses Kapitels nicht möglich, in aller
Ausführlichkeit darzulegen, wie sich in dieser histori-
schen Epoche die geopolitischen Leitbilder in den
Nationalstaaten Europas - und insbesondere noch ein-
mal in Deutschland - zu hegemonialen Facetten des
Diskurses emporschwangen und tief in die gesellschaft-
lichen Konflikte der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts
hineinwirkten. Dazu kann und soll auf die reichhaltige
Literatur verwiesen werden, die sich mit dem Thema
ausführlich beschäftigt hat (Schultz 2001, 2008, 2010a,
2010b, Kost 1988, Fahlbusch et al. 1989, Rössler 1990,
Sprengel 2000, Wardenga 1999, 2001, Wolff-Poweska
2000).
Gleichwohl ist diese Periode so bedeutsam, wenn
man eine Vorstellung davon erhalten will, was passiert,
wenn geopolitisch-territoriale Argumentationen eine
gesellschaftlich hegemoniale Stellung erlangen, dass an
zwei Bereichen eher exemplarisch und eher skizzenhaft
auf die hier dramatisch zutage tretende Verbindung zwi-
schen diskursiven Raumkonstruktionen und gesell-
schaftlichen Praktiken hingewiesen werden soll: am Bei-
spiel des aus dem Staatendarwinismus abgeleiteten
Expansionsmotivs im Rahmen des Kolonialismus der
europäischen „Großmächte“ und am Beispiel der aus
dem Staatendarwinismus abgeleiteten Konflikte unter
den europäischen Großmächten, die - unter erheblicher
Beteiligung des Deutschen Reichs - in den Ersten und
Zweiten Weltkrieg hineinführten.
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