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War die Verkopplung von Volk und Raum der erste
Konstruktionsschritt zur Naturalisierung des Staates, so
entfaltete Ratzel in einem zweiten Schritt eine diskursive
Logik, um die Dynamiken zu erklären, die sich im Ver-
hältnis zwischen Staaten abspielen. Hierfür nutzte er
den seinerzeit prominenten biologischen Ansatz, die
Darwin'sche Evolutionstheorie. Die Anwendung evolu-
tionistischer Thesen auf Organisationsprinzipien der
Gesellschaft war damals in Europa durchaus modisch in
den Geistes- und Gesellschaftswissenschaften. Elemente
dieses Denkens wie etwa die These, dass Entwicklung
sich in einem Wechselspiel von Konkurrenz, Auslese und
Verdrängung im Sinn eines survival of the fittest voll-
zieht, finden sich beispielsweise in Nietzsches Philoso-
phie wieder, der die Meinung vertrat, es sei „die Sache
der Wenigsten unabhängig zu sein - es ist eine Vorrecht
der Starken“ (Nietzsche 1886); entsprechend sei die Welt
„von Innen gesehen […] eben ‚Wille zur Macht' und
nichts außerdem“ (ebd.). Bei Ratzel fanden evolutionis-
tische Vorstellungen ihren Niederschlag im Konzept des
Staatendarwinismus: „Aus dem Darwinschen ‚Kampf
um's Dasein' wird bei ihm ein ‚Kampf um's Dasein im
Raum'. Nur wenn ein Staat genügend ‚Lebensraum' auf-
weise, sei sein Überleben gesichert“ (Nissel 2005). Diese
Annahmen führten - so Ratzel - unvermeidlich zu Kon-
flikten mit benachbarten Staaten, die oft auf kriegeri-
schem Wege ausgetragen würden, und die europäischen
Staaten des 19. Jahrhunderts mit ihren gegenseitigen
Konflikten, ihren imperialen Machtgelüsten und ihrem
fieberhaften Expansionismus in den Kolonien waren
ihm dafür beredte Beispiele. Aus seiner Sicht besiegte
dann in Form eines Konkurrenz- und Ausleseprozesses
der stärkere Staat den schwächeren. Entsprechend
reflektierte Ratzel breit über starke und schwache Staa-
ten, über das Wachstum von Staaten und die sich daraus
„natürlich“ ergebende Notwendigkeit zur Expansion
auf das Gebiet anderer Staaten, über den Krieg als
ebenso „natürliche“ Möglichkeit der Auseinanderset-
zung zwischen starken und schwachen Staaten und
immer wieder auch „über den Zwang, den geographi-
sche Bedingungen auf die Richtung einer geschicht-
lichen Bewegung ausgeübt haben“ sollen (Ratzel 1897).
„Wohin wir sehen, wird also Raum gewonnen und
Raum verloren. Rückgang und Fortschritt an allen
Enden; es wird immer herrschende und dienende Völker
geben. Auch die Völker müssen Amboß und Hammer
sein“ (Ratzel 1906).
Ratzels Ansätze bildeten in den kommenden Jahr-
zehnten die Grundlage für Weiterentwicklungen staa-
tenzentrierter geopolitischer Leitbilder. Bestimmende
und zentrale Motive wurden übernommen, insbeson-
dere der Staatsorganizismus/-darwinismus sowie der
Natur- und Raumdeterminismus des Ansatzes. Aufbau-
end auf diesen Fundamenten erhielt der geopolitische
Diskurs weitere Nahrung durch kontextuelle Erweite-
rungen. Einer der in dieser Hinsicht damals am meisten
beachteten Ansätze war die Konstruktion eines geopoli-
tischen Antagonismus zwischen See- und Landmächten
von Halford Mackinder, einem britischen Geographen.
Mackinder konstruierte mit diesem Entwurf eine
grundlegende „natürliche“ Dichotomie globalen Aus-
maßes (Abb. 3.5). Auf der Seite der Landmächte ging aus
seiner Sicht alle Macht vom Herzland aus, das sich von
seinem Kern in Russland aus Richtung Asien und Eu-
ropa erstreckte. „Darum herum drapiert findet sich ein
Saum von Gebieten, die Zugänge zu den Weltmeeren
haben. Sie zeichnen sich durch eine konflikthafte Zwit-
terstellung des gleichermaßen ozeanischen und konti-
nentalen Einflusses aus. Um diesen Saum herum ist die
restliche Welt angeordnet. Diese äußeren Gebiete Japan,
Großbritannien und die Vereinigten Staaten sind rein
ozeanisch geprägt. Das Machtgleichgewicht bzw. die
Machtverschiebungen innerhalb dieser dualen Welt-
struktur sind für ihn Triebfeder jeglicher Entwicklung,
wobei die Austragung der Konflikte in der Übergangs-
bzw. Saumzone stattfindet“ (Wolkersdorfer 2001a).
Icy
Sea
Pivot Area
Abb. 3.5 Die Abbildung zeigt das von
Mackinder entworfene Bild des welt-
umspannenden Gegensatzes zwischen
Land- und Seemächten, um die sich
verschiedene Peripherien ( inner and
outer Crescent ) ranken (verändert nach:
Wolkersdorfer 2001a).
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