Geography Reference
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Kapitel 1
Europa -
Raumerfahrungen,
Raumkonstruktionen
und machtvolle
Repräsentationen
Hans Gebhardt, Rüdiger Glaser und Sebastian Lentz
„Europa weist eine einzigartige territoriale Vielfalt auf: von der gefrorenen Tundra am
Polarkreis bis zu den tropischen Regenwäldern Guyanas, von den Alpen bis zu den grie-
chischen Inseln, von den Weltstädten London und Paris bis zu jahrhundertealten Klein-
städten und Dörfern.“ Mit dieser lyrischen Hymne versucht das „Grünbuch zum territo-
rialen Zusammenhalt“, das die Kommission der Europäischen Gemeinschaften im
Oktober 2008 veröffentlicht hat, die regionale Vielfalt und historische Tiefe des Alten
Kontinents in Worte zu fassen. Damit ist auch die Tatsache angesprochen, dass Europa
einst über eine große Zahl an Kolonien verfügte. Auch wenn nur noch einige Reste die-
ses Kolonialbesitzes, wie das französische und niederländische Guyana oder die franzö-
sische Insel Réunion, erhalten sind, so bleibt es doch eine Herausforderung, der natur-,
kultur- und wirtschaftsräumlichen Vielfalt unseres (Halb)kontinents gerecht zu werden.
Das folgende Kapitel gibt hierzu einen ersten Überblick. Es thematisiert die unter-
schiedlichen Raumerfahrungen, welche verschiedene Generationen in Ost und West mit
Europa im 20. Jahrhundert gemacht haben, und es beschreibt europäische „Geogra-
phien“ - Europa als Erdteil spezifischer historisch-geographischer Prägung, Europa als
zusammenwachsender Markt und auch als Vorreiter des ökologischen Gedankens -
sowie die innere Differenzierung des Halbkontinents in Vergangenheit und Gegenwart.
Auch wenn die europäischen Staaten seit Gründung der EWG (Europäische Wirtschafts-
gemeinschaft als Vorläufer der EU) seit Jahrzehnten immer enger zusammenwachsen,
so verlaufen doch vielfältige, alte und neue, häufig nicht direkt sichtbare, aber doch wir-
kungsmächtige Grenzen durch Europa: Grenzen nicht nur zwischen den ehemals kom-
munistischen und den kapitalistischen Staaten, sondern auch zwischen dem Wohl-
standseuropa im Nordwesten und den Mittelmeerstaaten, zwischen den Quell- und
Zielgebieten der europäischen Migration. Sehr wohl sichtbar und überdeutlich sind die
Grenzen, mit denen sich Schengen-Europa zunehmend gegenüber Migranten aus aller
Welt abschottet. So steht einer zunehmenden Integration nach innen in mancherlei Hin-
sicht eine Segregation nach außen gegenüber.
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