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seit Mitte der 1990er-Jahre sind reli-
giöse Minderheitsgruppen wie die sy-
risch-orthodoxen Christen zwischen
Antakya und Malatya oder auch die
Yezidi fast vollständig nach Europa
ausgewandert. Auch der Anteil der or-
thodox-christlichen Griechen und der
Armenier, die nach dem Lausanner
Vertrag von 1923 noch größere Ge-
meinden in Istanbul bilden dürfen,
sinkt in den letzten Jahren kontinuier-
lich. Insgesamt stellte das europäische
Parlament deutliche Schikanen sowohl
der Behörden als auch seitens der Be-
völkerung gegenüber diesen Minder-
heiten fest. Aber auch gegenüber den
Aleviten und den Nichtreligiösen sind
seit etwa 1990 zunehmend Übergriffe
zu beobachten. Beim Pogrom von Sivas
im Juli 1993 starben 37 Alevis, als auf-
geputschte Sunniten anlässlich eines
alevitischen Kulturfestivals Brandsätze
warfen.
Insgesamt gestaltet sich das Verhält-
nis des Islam zu anderen Religionen
deshalb als schwierig, weil sich nach
seiner Vorstellung eine gerechte Welt-
ordnung (Adil Düzen) nur durch den
rechten Glauben herstellen lässt - wer
nicht richtig glaubt, bedroht diese
Ordnung: Angehörige anderer Buch-
religionen (Juden, Christen) werden
diskriminiert, Atheisten und Nicht-Mo-
notheisten sind völlig rechtlos und
können versklavt werden.
Jede Form von Säkularisierung (also
die moderne Demokratie oder Welt-
wirtschaft) ist daher für den Islam in
seiner reinen Form grundsätzlich von
Übel und muss bekämpft werden. Alle
Ansätze, den Islam in die Aufklärung
zu führen (zuletzt mit der »St. Peters-
burg Declaration« von 2007), sind bis-
lang gescheitert. Die Sharia, das isla-
mische Gesetz, das die Rechtlosigkeit
der Frau, Todesstrafen durch Enthaup-
tung und Steinigung sowie Verstüm-
melungsstrafen vorschreibt, gilt in vie-
len islamischen Ländern zumindest
teilweise.
Islamisierung in der
Türkei
Eine Wiedereinführung der Sharia
durch die islamistische Regierungspar-
tei AKP befürchten auch die westlich
orientierten Kemalisten der Türkei.
Seit Übernahme des Amtes des Staats-
präsidenten durch den früheren AKP-
Außenminister Gül 2007 ist das verfas-
sungsrechtlich sogar möglich. Über die
Lockerung des Kopftuchverbots ent-
brannte 2008 ein beispielloser Konflikt
zwischen der Regierung und der bis-
lang noch unabhängigen Justiz der
Türkei: Sie scheiterte aber daran, die
AKP wegen islamischer Tendenzen zu
verbieten, anschließend änderte die
Partei die entsprechende Rechtsgrund-
lage. Seit den 1990er-Jahren konnte
man an den Wahlergebnissen der isla-
mistischen Parteien der Türkei deutlich
den Vormarsch fundamentalistischer
Einstellungen ablesen. Einer westlich-
säkular geprägten Oberschicht steht
eine Bevölkerungsmehrheit gegen-
über, die diesen Lebensstil ablehnt und
sich vom laizistischen Kemalismus ver-
abschieden will.
In den letzten Jahren unter der AKP-
Regierung wurden islamistische Ten-
denzen deutlich stärker und öffent-
licher. Selbst in Antalya, wo der CHP-
Bürgermeister noch 2006 das Tragen
islamischer Ganzkörperbadeanzüge
verboten hatte, waren diese nach dem
Wahlsieg der AKP 2008 zu finden. Wie
lange der Fastenmonat Ramadan noch
wie früher als Privatsache behandelt
wird - ohne massive öffentliche Ein-
schränkungen wie in anderen islami-
schen Ländern - bleibt abzuwarten.
 
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