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Chinesische Mauer angeblich vom Mond aus sehen kann, aber das ist garantiert Blödsinn,
weil ich sogar Schwierigkeiten hatte, sie zu erkennen, als ich direkt daneben stand.
Ich weiß einfach nicht, was es braucht, damit ich zufrieden bin. Ich mochte die brandneue
Mauer nicht, und dieses alte Teil hat mich auch nicht gerade vom Hocker gerissen. Ich bin
wirklich noch schwieriger zufriedenzustellen als Goldlöckchen. Aber immerhin war dieser
Ausflug nicht völlig für die Katz. Auf dem Berg bin ich nämlich eine meiner Sünden los-
geworden.
Von dort aus sind wir zu einem kleinen Dorf gefahren, wo wir aussteigen und ein bisschen
spazieren gehen wollten. Ich kam an einem Haus vorbei, vor dem ein Mann herumwerkelte.
Ich konnte nicht so recht erkennen, woran er da arbeitete, aber ich vermutete, dass es keine
Toilettentür war. Ich fragte Krish, ob ich mal nachsehen dürfte, und es stellte sich heraus,
dass der Mann gerade dabei war, einen Sarg zu zimmern. Ein Riesenteil. Ich erkundigte
mich, für wen der Sarg gedacht sei, und er antwortete: für die Dame des Hauses. Genau in
diesem Augenblick trat die Dame an die Tür. Sie erklärte mir, dass es in China üblich sei,
den eigenen Sarg in den eigenen vier Wänden herstellen zu lassen. Sie war neunundsech-
zig Jahre alt. Nach allem, was der Wahrsager mir erzählt hat, sollte ich mir womöglich am
besten die Nummer des Sargbauers hier notieren.
Die Vorstellung, dass mein eigener Sarg in meinem Vorgarten gezimmert würde, behagt
mir nicht. Da würde ich ja tagaus, tagein dran vorbeikommen. Außerdem wäre das wohl
der einzige Handwerkereinsatz, bei dem man glücklich ist, wenn er nicht gerade noch
rechtzeitig fertig wird. Überdies ist meine Wohnung nicht groß genug, als dass ich so ein
Ding bei mir aufbewahren könnte, und wenn ich es draußen lagern wollte, bräuchte ich da-
für garantiert einen Anwohnerparkausweis.
Während der Mann weiter vor sich hin arbeitete, begutachtete die Frau sein Werk, als
würde er gerade ihr Vordach neu lackieren. »Wenn der Sarg erst mal fertig ist«, erklärte sie,
»werde ich deutlich glücklicher sein. Dann weiß ich, dass das erledigt ist. Und ich weiß, in
was für einem Sarg ich liegen werde, wenn ich einmal tot bin. Dann bin ich wirklich glück-
lich.«
Dann erzählte sie mir, dass ihr Ehemann vor zwanzig Jahren im Alter von fünfzig gestor-
ben sei, noch ehe sein Sarg fertig war. Normalerweise lassen sie ihre Särge erst um den
siebzigsten Geburtstag rum zimmern. Der Ehemann musste in einem Sarg beerdigt werden,
der für seine Schwiegermutter vorgesehen gewesen war.
Wir überließen sie ihrer Arbeit und schlenderten weiter. Vor einem anderen Haus ent-
deckte ich noch einen Sarg. Dieser war schon fertig und schwarz gestrichen und lehnte an
der Wand, bereit für denjenigen, der ihn als Nächstes brauchen würde. Wenn wir vorsorg-
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