Travel Reference
In-Depth Information
Durchschnittspassagier sah jedenfalls aus, als wäre er um die siebzig. Ich verstehe über-
haupt nicht, warum all diese alten Chinesen noch nie in ihrem Leben die Chinesische Mau-
er gesehen haben. Vielleicht ist sie ja doch nicht so toll, wie es überall heißt. Wenn diese
Chinesen so lange damit gewartet haben, sie zu besichtigen, muss das ja schließlich irgend-
was bedeuten, oder?
Im Grunde spielte es keine Rolle, dass ich den chinesischen Reiseleiter nicht verstehen
konnte, weil ich ihn angesichts all des Röchelns und Räusperns im Bus ohnehin nicht hätte
hören können. Röcheln und Räuspern muss die gleiche Wirkung haben wie Gähnen. Wenn
einer damit anfängt, machen es ihm alle nach. Ich saß neben einer alten Frau, die aussah,
als könne sie kein Wässerchen trüben … wahrscheinlich weil sie alles, was je ein Wässer-
chen hätte trüben können, zuvor schon rausgehustet hatte. Minütlich rotzte sie etwas hoch
und spuckte es dann in eine Tüte, die sie mitgebracht hatte. Ich konnte es kaum erwarten,
endlich bei der Mauer anzukommen. Vermutlich kann ich mithilfe all der Spucke, die hier
durch die Luft fliegt, sogar herausfinden, ob meine neue Jacke wasserfest ist oder nicht.
Irgendwann fuhren wir endlich auf einen riesigen Parkplatz, der von ein paar Verkaufsbu-
den gesäumt war. Dort gab es chinesische Hütchen für Touristen, Wollmützen, Halstücher,
Kühlschrankmagnete und Souvenirteller. Weil es kalt war, kaufte ich mir eine Wollmütze,
und stellte mich dann ans Ende der gigantisch langen Schlange derer, die die Mauer besich-
tigen wollten.
Als ich das Eingangstor passiert hatte, sah ich die Mauer - und zwar meilenweit. Sie sah
aus wie eine endlos lange Schlange, die sich hinauf ins Gebirge schlängelte. Ich war wirk-
lich beeindruckt. Ich wäre gerne stehen geblieben, um mir das Ganze ein bisschen länger
anzusehen, aber der Reiseleiter schrie mich an, ich solle mich in Bewegung setzen. Ich sag-
te zu Krish, dass wir die Mauer doch genauso gut alleine entlanggehen könnten. Immerhin
würden wir von einem Reiseleiter, der nur Chinesisch sprach, ohnehin nichts erfahren. Er
stimmte mir zu.
Wir fanden einen Teil Mauer, der nicht von allzu vielen Besuchern belagert wurde. Ich
betrachtete sie genauer. Sie sah verhältnismäßig neu aus. Ich versuchte zu begreifen, wes-
halb immer so ein Trubel um diese Mauer gemacht wurde, aber es fiel mir schwer, weil
ich ja so gut wie gar nichts darüber wusste. Krish reichte mir seinen China-Reiseführer, in
dem der Chinesischen Mauer ein Kapitel gewidmet war. Darin stand unter anderem, dass
die Mauer in den 1950ern und dann noch mal in den 80ern nach allen Regeln der Kunst
saniert worden sei. Darf sie denn überhaupt noch als Weltwunder gelten, wenn sie doch
gar nicht mehr original ist? Wenn in Indien das Tadsch Mahal inzwischen zu einem niegel-
nagelneuen Gebäude mit Doppelgarage und einer kiesbestreuten Auffahrt umfunktioniert
Search WWH ::




Custom Search