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studiert werden. Folglich nimmt man sein Buch und verlässt den Katal-
ograum in Richtung Lesesaal, dem zentralen Prunkraum der Bibliothek.
Wie eine gewaltige Basilika öfnet sich vor dem Besucher der Rose Main
Reading Room , in dem an langen Tischreihen Hunderte von Stühlen aus
Eichenholz stehen. Altmodische, aber zum Lesen ideale Lampen mit Mess-
ingschirmen stehen wie vor hundert Jahren auf den Tischen, von der Decke
hängen zwanzig gewaltige Kronleuchter, die hohen Fenster lassen den Saal
tagsüber wie ein lichtes Kirchenschif erstrahlen. Ringsherum auf zwei Eta-
gen Nachschlagewerke aller Art. Am Eingang wird der Lesesaal durch eine
Art Lettner in einen linken und einen rechten Teil gegliedert, und dort liegt
in einer Vitrine - jeder geht daran vorbei - ein aufgeschlagenes Exemplar
von Johannes Gutenbergs 42-zeiliger Bibel, 62 des ersten jemals gedruckten
Buchs. Hier oben, im zweiten Obergeschoss weit oberhalb der Straße, unter
einer vergoldeten, mit Fresken ausgeschmückten Decke und beim Anblick
dieser bibliothekarischen Reliquie sollte der Besucher nach der Vorstellung
des ersten Bibliotheksdirektors John Shaw Billings beim Lesen und Lernen
über das Alltagsleben erhoben werden. Jeder konnte und kann die Bibliothek
nutzen, sie ist angelegt als ein Ort des Selbststudiums, eine Universität ohne
Professoren und Vorlesungen, nur mit Büchern. Und Bücher werden hier of-
fenbar nicht einfach gelesen: Das Lesen von Büchern gleicht hier einem
Gottesdienst in der Kathedrale des Wissens.
Vielleicht kennzeichnet ein Gebäude wie dieses den Höhepunkt dessen,
was wir als Schriftkultur bezeichnen. Nicht nur die Qualität der Bibliothek
selbst spricht dafür, sondern auch das Selbstverständnis, das sich hier von
der Eingangstreppe bis in den großen Lesesaal hinein ofenbart. Als ich vor
einigen Jahren Gelegenheit hatte, die New York Public Library selbst zu be-
sichtigen, war ich fasziniert davon, mit welch einer Selbstverständlichkeit
dieses großartige kulturelle Erbe hier vor uns stand, wie es noch immer vor
Kraft strotzte und ein entbehrungsreiches, geduldiges Studium der Bücher
erstrebenswert erscheinen ließ. Man durfte fotograieren, und so versuchte
ich, eine Hälfte des gut besuchten Lesesaals möglichst vollständig ins Bild
zu bekommen. Nach Hause zurückgekehrt, das Foto auf meinem Laptop bei
hoher Aulösung betrachtend, rätselte ich lange, was mir daran bei aller
Pracht seltsam erschien. Schließlich iel es mir auf: Von den etwa zweihun-
dert Menschen, die in dem Saal zu sehen waren, las kein einziger in einem
Buch. Niemand. Alle nutzten die zum Teil aufgestellten, zum Teil mitgeb-
rachten Rechner, um damit zu lesen, zu recherchieren, zu schreiben oder zu
spielen. Sieben Millionen Bücher waren an jenem Vormittag, als das Bild
entstand, nur Stafage. Um zu verstehen, was sich hier geändert hat, wollen
 
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