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und Wissenschaft werden immer wieder neu aufgelegt und liegen in unter-
schiedlichen Fassungen vor, die ebenfalls als unterschiedlich ausgeprägte
Phänotypen verstanden werden können. Übersetzungen derartiger Werke
entstehen alle paar Jahrzehnte neu; auch sie kann man als Varianten eines
Phänotyps verstehen.
Richard Dawkins hat mit dem »erweiterten Phänotyp« einen weiteren
Begrif der Evolutionstheorie geprägt, der eine neue Sichtweise auf eine
ganze Reihe altbekannter Erscheinungen ermöglicht hat. 296 Als erweiterten
Phänotyp bezeichnet er Wirkungen der Gene, die die sichtbaren Ei-
genschaften des Organismus überschreiten und doch Ergebnis eines evolu-
tionären Prozesses sind. Dafür gibt es viele Beispiele in der Natur: den Biber
mit seinen Dämmen, durch die er Bäche und kleine Flüsse aufstaut, um
seine im Wasser liegende Wohnburg vor Feinden zu schützen; Spinnen, die
mit Netzen ihre Beute fangen; oder Köcherliegen, deren Larven sich mit
einem selbstgebauten Gehäuse aus Muschelteilen und kleinen Steinchen
umgeben.
Ein solches Verhalten stellt ofenbar einen Vorteil dar, der evolutionär
selektiert und immer weiter verfeinert wurde. Ich tendiere dazu, das
Konzept des erweiterten Phänotyps auch auf die Evolution schriftkultureller
Meme zu übertragen. Betrachten wir evolutionäre Prozesse aus der Per-
spektive der Meme, dann haben sich diese mit Texten verschiedener Art
nicht nur Phänotypen geschafen, die darum konkurrieren, sich in den Köp-
fen von Menschen replizieren zu können, sondern auch Bibliotheken, in den-
en sie gespeichert werden, Verlage und den Buchhandel, durch die sie ihren
Reproduktionserfolg erhöhen können, Schulen, mit deren Hilfe (Alphabetis-
ierung und Bildung) sie in eine größere Anzahl von Gehirnen gelangen
können, und Hochschulen, in denen Meme systematisch Mutationen un-
terzogen und Selektionszwängen ausgesetzt werden. Die Infrastrukturen
und Institutionen der Schriftkultur bilden die erweiterten Phänotypen der
sich schriftlich reproduzierenden Meme.
Wenn das so ist, dann haben diese Einrichtungen der Schriftkultur nicht
nur die Funktion, Texte zu erstellen, zu kopieren, zu distribuieren und zu
speichern. Sie sind vielmehr Beteiligte in einem evolutionären Prozess,
durch den diejenigen Text-Meme selektiert werden, die den kulturellen Um-
weltbedingungen am besten angepasst sind. Gelingt es einem Text, von
einem bedeutenden Verlag herausgegeben und in großer Aulage gedruckt
zu werden? Gelingt es ihm, in einer Bibliothek lange Zeit verfügbar gehalten
zu werden oder durch Aufnahme in den schulischen Lektürekanon eine be-
sonders hohe Reproduktionsrate zu erzielen? Gelingt es ihm vielleicht, die
 
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