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Kapazitäten Paroli geboten werden kann. Über Jahrhunderte wurden auf
diese Weise in vielen Kulturen lange Epen überliefert, ob es die Ilias war,
das mesopotamische Gilgamesch -Epos oder das Nibelungenlied. 291 Aus evol-
utionärer Sicht haben sich in den oralen Kulturen dabei diejenigen Meme
durchgesetzt, die an die Bedingungen der rein mündlichen Reproduktion am
besten angepasst waren. Dadurch entstanden Gesänge, nicht aber histor-
ische Dokumentationen oder philosophische Abhandlungen. Sie waren über
Jahrhunderte fruchtbar und wiedergabetreu genug, um sich erfolgreich von
Hirn zu Hirn »fortplanzen« zu können.
Gegenüber der gesprochenen Sprache bietet die Verwendung von Schrift
ungeheure Vorteile für die Reproduktion von Memen. Ein Wort, ein Vers, ein
Gesang ist endgültig verloren, wenn es in einer oralen Gesellschaft keinen
Menschen mehr gibt, der sie in seinem Gehirn gespeichert hat. Durch die
Schrift können Meme außerhalb menschlicher Gehirne »überwintern«, also
Phasen des Vergessens überstehen, um anschließend durch Lesen die Ge-
hirne der Menschen erneut zu besiedeln. Auch hinsichtlich der Wiedergabe-
treue übertrefen schriftlich reproduzierte Meme die mündlichen: Papier
und viele andere Medien sind viel zuverlässigere Speicher als das mensch-
liche Gehirn. Inschriften auf steinernen Monumenten können Meme weit in
die Zukunft tragen, jede Generation kann sie in ihren Gehirnen von Neuem
in der gleichen Weise reproduzieren.
Worin schriftgebundene Meme allerdings hinter lautgebundenen zurück-
stehen, ist ihre Fruchtbarkeit, zumindest in der Manuskriptkultur. Der
Aufwand, einen Text zu produzieren, ist nämlich erheblich größer als zu
sprechen - es ist langwieriger, teurer, und es erfordert besondere
Fähigkeiten. Durch handschriftliche Replikation entstehen wesentlich weni-
ger Memkopien als durch Sprechen, und das akustische Medium hat
überdies auch noch den Vorteil, mehrere Empfänger gleichzeitig erreichen
zu können. Allerdings ist diese Eigenschaft akustischer Kommunikation im-
mer an die räumliche Präsenz menschlicher Sprecher gebunden. Ein hands-
chriftlicher Text kann unabhängig von seinem Urheber »sprechen«, durch
ihn können also nicht nur Zeiten, sondern auch Räume überbrückt werden.
Diese Vorteile des Manuskripts wiegen seine ökonomischen Nachteile ofen-
bar auf; zwar haben Manuskriptkulturen orale Kulturen nicht verdrängen,
sich aber doch im Zustand der Koexistenz mit diesen etablieren können.
 
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