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Kapitel 8
Die Evolution der Kultur
Müssen all diese Veränderungen als ein Fortschritt angesehen werden? Wer-
den Lesen und Schreiben »besser« unter den Bedingungen der Digitalität, die
wir uns in den letzten drei Kapiteln angesehen haben? Hinter diesen Fragen
scheint die Erwartung durch, dass kulturelle Veränderungen zielgerichtet
sind und zu einem Idealzustand hinführen - manchmal vielleicht auf Umwe-
gen oder mit Rückschritten, aber doch in der Weise, dass insgesamt eine
»Verbesserung« zu verzeichnen ist. Am deutlichsten wird diese Aufassung im
kulturellen Teilbereich der Wissenschaft: Die Wissenschaft wird dabei gese-
hen als ein Gewerbe, das nach und nach immer mehr Erkenntnisse zutage
fördert und sich dabei immer mehr der Wahrheit annähert, also tatsächlich
immer »besser« wird. Wissenschaft und kulturelle Entwicklung überhaupt
haben danach etwas mit Vernunft zu tun und mit der unausgesprochenen
Überzeugung, dass diese Entwicklung im Großen und Ganzen zu etwas Sin-
nvollem, etwas Besserem oder Wahrhaftigerem hinführt. Und dass der
Mensch letztlich die Kontrolle über diese Entwicklung besitzt, wenn er es nur
will und sich Mühe gibt.
Dieses optimistische Bild wurde bereits 1962 von dem amerikanischen Wis-
senschaftsphilosophen Thomas S. Kuhn zerstört. Kuhn, wie auch Douglas En-
gelbart im Zweiten Weltkrieg kurioserweise Radartechniker, 269 war eigent-
lich Physiker. Eher durch Zufall musste er einen Kurs zur Geschichte der
Naturwissenschaften halten, und danach war er für die Physik verloren. Er
las die historischen Originaltexte und erkannte dabei, dass der Erkenntnis-
fortschritt in der Wissenschaft keineswegs so linear verläuft, wie er es als his-
torisch »naiver« Physiker angenommen hatte. Längeren Phasen normaler
wissenschaftlicher Tätigkeit folgen Phasen des Umbruchs, der Revolution.
Das Buch, mit dem Kuhn weltbekannt wurde, hieß dann auch Die Struktur
wissenschaftlicher Revolutionen . 270 Darin beschreibt er, dass Wis-
senschaftler, die innerhalb eines Denkgebäudes (Kuhn spricht von »Paradig-
men«) arbeiten, keineswegs dazu bereit sind, dieses Denkgebäude nur wegen
dazu nicht passender Forschungsergebnisse zu verändern oder gar
aufzugeben. Man darf sie sich nicht als Schiedsrichter ihrer eigenen
Forschung vorstellen, unabhängig und einzig der Wahrheit verplichtet.
 
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