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Kapitel 7.1
Lesen
Nicht nur der Mensch, nicht nur die Schrift, nicht nur ich - das Lesen wan-
delt sich, wie es sich immer gewandelt hat, wenn sich die Schrift, die Tech-
nologien und die Medien der Schrift veränderten. Das Lesen selbst ist nicht
gefährdet, niemals zuvor war Geschriebenes so leicht verfügbar wie heute -
jederzeit, überall und für jeden. Es wird auch im digitalen Zeitalter sehr viel
gelesen, vielleicht mehr als je zuvor. Das Smartphone, das Tablet - all diese
Geräte können als universale Computer sehr viel, aber vor allem zeigen sie
Schrift an, ob es nun Facebook-Seiten, Spiegel Online -Meldungen oder
Whatsapp-Nachrichten sind. Die Kulturtechnik des Lesens loriert und hat
sich sogar neue Bereiche erschlossen: Die Funktionen des Computers wer-
den durch Befehle verfügbar gemacht, die in Befehlszeilen, Menüs, Formu-
laren oder Verzeichnissen als Textstücke dargestellt sind. Diese Texte wollen
nicht nur gelesen werden, sondern sie lösen, wenn sie angeklickt werden,
etwas Weitergehendes aus. Diese neue Eigenschaft von Schrift tritt zu der
alten, immer vorhandenen, nämlich der, gelesen werden zu können, hinzu.
Der Computer zwingt uns zum Lesen, um ihn zu steuern. Und dieses Lesen
kommt zum »normalen« Lesen hinzu, bindet und ergänzt es.
Anders verhält es sich damit, wie gelesen wird. Das tägliche, überall
stattindende Lesen bezieht sich nicht auf 400-seitige Bücher, sondern auf
kleine Texteinheiten, die in Sekunden oder wenigen Minuten aufgenommen
werden. Und dieses Lesen ist umgeben von anderen Formen der Kom-
munikation, es ist nicht vertieft, konzentriert, sondern erfolgt sehr oft
nebenbei, ist lüchtig und dabei zugleich Teil umfassenderer Kommunika-
tionen. Ein Roman, ein philosophisches oder wissenschaftliches Werk dage-
gen erfordern die Versenkung, eine tiefe Konzentration, ohne die ein Leser
vom Entscheidenden eines Buchs nicht nur etwas weniger, sondern gar
nichts aufnimmt. Zwar werden auch heute noch solche Werke gelesen, doch
stellen sich die Verlage auf die Veränderungen der Lesepraxis ein. Bücher
sind in kürzere Einheiten gegliedert und Sachbücher wesentlich visueller als
früher. Der Hypertext hat den Leser daran gewöhnt, kleinere, voneinander
unabhängige Textstücke zu lesen. Das sehr konzentrierte, ausschließliche
Lesen, diese in der Schriftkultur fast als Gebet verstandene Hinwendung
zum Text hingegen ist gefährdet. Die Aufmerksamkeit des Lesers erfährt
vielfältige und fortwährende Ablenkung in der digitalen Sphäre.
 
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