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Bild 87 Die für Wolle charakteristischen schwefelhaltigen Aminosäuren a) Cystein, b) Thiocystein,
c) Cysteinsäure, d) Cystin, e) Lanthionin und f) Methionin.
Wolle verfügt über einen relativ hohen Anteil von Aminosäuren mit sterisch aufwendigen
Seitenketten, die verschiedene, in Bild 88 gezeigte, Wechselwirkungen eingehen können und
die die dreidimensionale Struktur der Wollproteine stabilisieren [99], [102]. Im Vergleich mit
anderen Proteinen besitzen Keratine einen höheren Vernetzungsgrad durch Disulfidbrücken
und andere in Bild 88 gezeigte interchenare Wechselwirkungen, was die außergewöhnliche
mechanische und vor allem chemische Beständigkeit erklärt. Insbesondere die Disulfidbrücken
sind für die hohe Nassfestigkeit, die geringe Quellung und die Unlöslichkeit in vielen Lö-
sungsmitteln verantwortlich [102].
Die Quervernetzung durch Disulfidbrücken nimmt bei der Keratinisierung, d. h. dem schritt-
weisen Absterben der Zellen beim Transport zur Oberfläche der Epidermis, gegenüber der ur-
sprünglichen Vernetzung noch weiter zu [7]. Keratine sind im Gegensatz zu anderen Proteinen
wie z. B. Kollagen, das in Form von Muskelfasern einen substantiellen Teil unserer Nahrung
ausmacht und sehr schnell (Zeitskala von wenigen Stunden) abgebaut wird, für die meisten
Lebewesen nicht verdaubar. Eine Ausnahme bildet z. B. die Larve der Kleidermotte ( Tineola
bisselliella ), die Wollfasern metabolisieren kann sowie der Pilz Tritirachium album. Selbst
Vögel mit ihren aggressiven Verdauungsmedien können keine Keratine enzymatisch zersetzen,
so scheiden beispielsweise Greifvögel das Fell von kleinen Nagetieren unverdaut als sogenannte
Gewölle wieder aus.
Der werkstoffliche Charakter der Wollfaser ist als makroskopische Eigenschaft und damit auch
Anwendungseigenschaft wie bei allen Materialien eine Konsequenz des mikro- und mesosko-
pischen Aufbaus. Bemerkenswert ist, dass Wolle wie auch Seide ein inhärenter Verbundwerk-
stoff ist, der lediglich aus einer chemischen Stofffamilie aufgebaut ist, die jedoch in verschie-
denen strukturellen Erscheinungsformen in einem Material umgesetzt ist. Dabei ist das Ziel der
Natur, ein dem Anwendungszweck bestmöglich angepasstes Material bereitzustellen.
 
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